Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stirb

Stirb

Titel: Stirb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanna Winter
Vom Netzwerk:
spendet. Neben dir grast dein geliebtes Pferd. Du kannst sein braunes Fell in der Sonne glänzen sehen …«
    Das Mädchen lag nun vollkommen regungslos da.
    »Ich möchte, dass du jetzt um den Baum herumgehst«, fuhr Dr. Lange sanft fort. »Gleich hinter dem mächtigen Stamm liegt ein kleines Kästchen, in dem du all deine Erinnerungen aufbewahrt hast. Es ist schon sehr alt, und normalerweise ist es verschlossen. Siehst du es?«
    Emma schien bereits vollkommen in Trance, als ihr Kopf ein zaghaftes Nicken andeutete.
    »Heute ist dieses Kästchen nicht abgeschlossen, geh hin und versuche, den Deckel zu öffnen«, redete der Psychologe ruhig und konzentriert auf die Zwölfjährige ein. »Du wirst sehen, es geht. Und wenn du den Deckel anhebst, möchte ich, dass du versuchst, einmal hineinzuschauen.«
    Im Raum war es jetzt mucksmäuschenstill, als plötzlich das schier Unfassbare geschah:
    »… ja«, stieß Emma mit leiser, brüchiger Stimme hervor.
    Kern und Hausmann wechselten Blicke. Auch Lara konnte kaum fassen, was hier in diesen Momenten geschah. Es war das erste Wort seit jener Schreckensnacht, das ihre Tochter in ihrem Beisein von sich gegeben hatte. Freudentränen liefen über ihre Wangen, während Lange fortfuhr.
    »Ich möchte, dass du zwischen all den Erinnerungen versuchst, den Abend des siebten Juni zweitausendfünf zu finden. Kannst du das?«
    Nach einer kurzen Unterbrechung wiederholte er seine Frage. »Kannst du sehen, was am Abend jenes siebten Juni passiert ist? Erzähl mir, was du siehst, Emma.«
    »Ich … ich … liege im Bett«, begann sie zu stammeln. »… im Kinderzimmer … alles dunkel …«
    »Und was siehst du noch?«, fragte er in sonorem Tonfall, während er einen Notizblock zur Hand nahm und etwas aufschrieb.
    »Ich habe mein blaues Plüschpferd im Arm … ich trage ein viel zu großes weißes T-Shirt, das mir bis zu den Knien reicht … mein Papa hat es mir gegeben, weil ich mein Nachthemd vergessen habe …«
    »Was passiert dann, Emma?«
    »Ich liege da und schlafe … auf einmal … ein seltsames Geräusch … ich … werde wach, und es … es hört sich an, als sei jemand an der Wohnungstür … ein Poltern, dann Schritte … im Flur.« Der Atem des Mädchens ging zunehmend schwerer.
    »Ganz ruhig, Emma. Du bist auf der schönen grünen Wiese, auf der dir nichts mehr passieren kann«, schaltete der Psychologe sich abermals ein. »Nimm dir alle Zeit der Welt. Wenn es wieder geht, erzähl uns doch einfach, was du noch in diesem Kästchen siehst.«
    Emma hielt die Augen weiterhin geschlossen und holte tief Luft.
    »Ich höre, wie im Zimmer nebenan eine Tür aufgestoßen wird … und plötzlich … Schreie, schlimme Schreie! Laut, ganz laut!« Emma hielt sich die Ohren zu. »O Gott, NEIN! NICHT !«
    Voller Anspannung beobachtete Lara, wie sich die Fingernägel ihrer Tochter in das Polster der Liege gruben.
    »Wessen Schreie?«, fragte Dr. Lange behutsam nach. Emma antwortete nicht gleich. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. »Papa … seine Freundin – plötzlich höre ich sie nicht mehr … ist alles still …« Dicke Tränen liefen über ihre Wangen, während sich ihr Gesicht zunehmend verzerrte.
    Lara spürte, wie sich beim Zuhören die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten und ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte.
    »Und was geschah danach, Emma?«, fragte Dr. Lange weiter.
    »Die Schritte … sie, sie kommen immer näher. Bleiben an der Tür vor meinem Zimmer stehen.« Panisch warf Emma den Kopf von links nach rechts. »Nein! Nicht, bitte!«
    Lara rutschte auf dem Stuhl herum. Die schweißnassen Hände unter ihren Oberschenkeln vergraben, fiel ihr auf, wie Dr. Lange immer wieder zu den Polizisten schaute, die ebenso gebannt wie kerzengerade in ihren Sesseln saßen. Erst nachdem sich Emma wieder ein wenig gefangen hatte, setzte er die Sitzung fort.
    »Ganz ruhig, wenn du möchtest, kannst du das Kästlein jederzeit wieder zuklappen und zurück auf die Wiese gehen. Aber vielleicht schaffst du es ja doch, noch ein letztes Mal hineinzusehen?«
    Emmas Gesichtszüge, die sich kurzzeitig ein wenig entspannt hatten, verkrampften sich von neuem.
    »Auf … auf einmal öffnet sich die Tür zu meinem Zimmer … kann kaum was erkennen, nur, dass da plötzlich ein Mann steht, er hat etwas in der Hand – er kommt direkt auf mich zu!«
    »Wie sieht der Mann aus?«, hakte Dr. Lange nach.
    Lara und die Kriminalbeamten starrten Emma mit halboffenen Mündern an, und

Weitere Kostenlose Bücher