Stirb
für einen Moment schien es, als ob niemand im Raum auch nur zu atmen wagte.
Schwerfällig hob und senkte sich der Brustkorb des Mädchens.
»Angst! Angst! Ich habe so schreckliche Angst!«
»Emma, du musst dich konzentrieren – kannst du den Mann beschreiben?«
Die Lippen des Mädchens bewegten sich, doch es brachte kein Wort mehr heraus. Dr. Lange verschränkte die Arme vor der Brust und bedeutete Lara und den Polizisten mit einem Kopfschütteln, dass er kurz davor war, die Sitzung abzubrechen.
»Nicht jetzt, wo wir so nah dran sind!«, zischte Hausmann.
Der Psychologe holte tief Luft. Schließlich gab er ein widerwilliges Nicken von sich und setzte die Hypnose fort. »Emma, versuch es noch ein letztes Mal und sieh genau hin – wie sah dieser Mann mit dem Messer aus?«
Das Mädchen lag jetzt stocksteif da. Die Stimmung im Sprechzimmer war zum Zerreißen gespannt, und Lara konnte förmlich zusehen, wie ihre Tochter unter der Last der Bilder zu zerbrechen drohte. Sie hoffte inständig, dass Emmas Leiden nicht umsonst gewesen sein sollte.
»Er … er ist groß … breite Schultern … es ist zu dunkel, kann sein Gesicht nicht erkennen … plötzlich steht er an meinem Bett!« Emmas Kinn zitterte, ihre Nasenflügel flatterten. »Ich, ich ziehe mir die Decke über den Kopf … mache meine Augen ganz fest zu – dann zerrt er die Decke weg! Ich springe zur anderen Bettseite heraus, schaffe es irgendwie, an ihm vorbei in den Flur zu laufen, und renne weiter ins Badezimmer, aber er kommt mir hinterher … holt mich ein!« Ihr ganzer Körper schien förmlich zu beben, während sich die Bilder in ihrem Kopf wie Elektroschocks entluden. »Er zerrt an meinen Haaren, schlägt mein Gesicht gegen die Badezimmerfliesen, drückt sich gegen mich – o Gott! Bitte! NEIN! NEIIIIIN !« Emma wand sich auf der Liege wie ein Fisch auf dem Trockenen und schnappte verzweifelt nach Luft, als drohe sie jeden Moment zu ersticken.
»Aufhören!«, rief Lara plötzlich. »Mein Gott, hören Sie doch bitte auf!«, forderte sie den Psychologen auf. »Holen Sie sie zurück!«
Dr. Lange wich dem sich noch immer in Trance befindlichen Mädchen nicht von der Seite. »Emma – soll das heißen, dass du sein Gesicht nie gesehen hast?«, hakte er nach.
Doch Emma war erneut verstummt. Lag jetzt kraftlos und schwer atmend auf der Liege.
Dr. Lange blickte zu Lara und den Polizisten hinüber. Erst als er sicher war, die volle Aufmerksamkeit zu haben, sagte er:
»Ich weiß, dass Sie sich von dieser Hypnose eine Beschreibung des Täters erhofft haben – doch ich bin nun endgültig davon überzeugt, dass Emma Ihnen nicht weiterhelfen kann.«
»Aber Sie können doch jetzt nicht an der entscheidenden Stelle abbrechen!«, meinte Hausmann entsetzt.
»Frau Kommissarin, ich trage die Verantwortung für meine Patientin – und ich riskiere ganz sicher nicht, dass das Mädchen hier vor unseren Augen noch kollabiert! Die Sitzung ist hiermit beendet, ich werde jetzt gleich bis drei zählen und Emma aus der Hypnose zurückholen.«
Lara atmete erleichtert auf.
Doch Hausmann sprang wütend auf.
»Aber sie war so kurz davor – ich bitte Sie, es wäre doch durchaus denkbar, dass …«
»Sylvia, das bringt doch nichts, das Mädchen ist fix und alle, das siehst du doch!«, unterbrach Kern und zog sie sacht am Ärmel, damit sie sich wieder setzte.
Die Kommissarin blickte Dr. Lange kritisch an.
»Und Sie halten es wirklich für ausgeschlossen, dass Emma ihn erkannt hat?«
Der Psychologe nickte.
»Und falls doch, ist es so tief in ihr vergraben, dass es Wochen dauern kann, es aus ihr herauszukitzeln.«
***
Berlin-Grunewald, 1980 …
»Und? Habe ich zu viel versprochen?«, fragte Andreas, nachdem sie das versteckt hinter einer Wegbiegung gelegene Plateau am Teufelsberg erreicht hatten.
»Machst du Witze? Die Sicht ist beeindruckend«, fand Isabelle Kempitz und betrachtete den rotglühenden Horizont, während die untergehende Sonne allmählich hinter dem vor ihnen liegenden Tal mit seinen Hausdächern und Straßenschluchten verschwand.
Andreas hörte das Blut durch seinen Kopf rauschen und konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Er nahm eine Schachtel Marlboro aus dem Handschuhfach und streckte sie der Referendarin stumm hin.
»Nein danke, habe aufgehört«, meinte Isabelle und spähte auf die Rückbank. »Toller Fotoapparat, gehört der dir?«
»Ach die, äh, ja, ein Erbstück meines Vaters.« Die Kamera! Wie hatte er sie
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