Stoerfall in Reaktor 1
Armen spürt und von ihrem Duft eingehüllt wird, ist es so vertraut, als wäre das letzte Mal gerade erst gestern gewesen und nicht schon vor Monaten. In denen er sich so oft nach ihrer Umarmung gesehnt hat, dass er manchmal kaum noch wusste, ob es wirklich jemals wahr gewesen ist.
»Und was ist mit unserem Deal?«, bringt er gerade noch heraus, während ihre Hände sich bereits unter seinem Shirt den Rücken hinauftasten.
»Ein Deal muss auch ordentlich besiegelt werden«, flüstert Hannah dicht an seinem Mund. »Mit einer Unterschrift. Oder wenigstens einem Handschlag. Oder ganz anders …«
Ihre Lippen schmecken ganz leicht nach Erdbeeren. Lukas hat die Schale mit den Früchten vorhin neben ihrem Computer stehen sehen. Irgendwo weit weg bellt wieder mal ein Hund. Aber das ist egal. Das Einzige, was zählt, sind Hannahs Hände, ihre Haut, ihre Lippen, die Haare, die ihn im Gesicht kitzeln, als er sich auf die Matratze legt und sie sich über ihn beugt.
Sieben
Als Lukas nach Hause fährt, dämmert es bereits schon wieder. Über dem Fluss liegt eine Nebelwolke, die beiden Kühltürme des AKW s sehen aus wie mit zu viel Wasser hingetuscht, verschwommen, unwirklich. Die Sonne steht als fahler, roter Ball über den Hügeln. Bei Jannik auf dem Hof kräht ein Hahn.
Ich wusste gar nicht, dass sie überhaupt noch Hühner haben, denkt Lukas, bis ihm klar wird, dass das Krähen vom Nachbargrundstück kommt. Lukas kennt die alte Frau, die da wohnt, vom Sehen. »Die Hexe«, wie die Kinder im Ort Frau Plaschetzki nennen, weil sie ein bisschen wunderlich ist und mit niemandem etwas zu tun haben will. Manchmal steht sie an ihrer Gartentür und redet mit sich selber. Oder beschimpft alle, die vorbeikommen. Natürlich hat auch Herr Plaschetzki im AKW gearbeitet, als Werkmeister, wenn sich Lukas richtig erinnert. Als er vor ein oder zwei Jahren an Krebs gestorben ist, gab es eine Zeit lang das Gerücht, dass er bei einem Störfall ohne ausreichende Schutzkleidung im Reaktorraum gearbeitet hätte. Er und noch ein paar andere, von denen zwei mit ihren Familien kurze Zeit später weggezogen sind. Wohin weiß keiner, sie haben sich von niemandem hier verabschiedet. Angeblich hat der Energiekonzern ihnen irgendwo anders bessere Arbeitsplätze angeboten.
Auf der Mauer an der Einfahrt zum Getränkehandel ist ein neues Graffito. Nur ein einziges Wort, aber mindestens zwei mal drei Meter groß, mit ziemlich coolen Schattenrissen an den ineinander verschachtelten Buchstaben: » SANDRA «, entziffert Lukas, dann entdeckt er auch das Tag in der rechten unteren Ecke. Ein Typ aus seiner Schule, eine Klasse über ihm, Spitzname »Tom, der Sprayer«. Lukas mag ihn nicht besonders, seit er ein paar Mal versucht hat, Hannah anzumachen. Ohne Erfolg zwar, aber zu der Zeit, als alle wussten, dass Hannah mit Lukas zusammen war. Und jetzt sind wir wieder zusammen, denkt Lukas, und keiner weiß es! Jedenfalls hofft er, dass Hannah das mit dem »Wir-haben-nur-einen-Deal-und-nichts-weiter« nicht mehr ernst meint. Nicht mehr nach dem, was eben war.
Er hat keine Ahnung, wer Sandra sein könnte. Und es interessiert ihn auch nicht. Aber er muss unwillkürlich grinsen, als er jetzt an einem Laternenpfahl das Plakat für Hannahs Auftritt am letzten Abend sieht. Er nickt dem Plakat zu, als wäre es Hannah persönlich. Er ist glücklich. So glücklich, dass er am liebsten laut schreien möchte! Wenn nur der Druck auf seiner Brust nicht wäre, der ihm das Atmen schwer macht und den er sich selbst nicht ganz erklären kann.
»Mann, du bist ja echt voll von der Rolle«, murmelt er halblaut vor sich hin, während er im letzten Moment einer toten Taube ausweicht, die mit verdrehtem Kopf mitten auf der Straße liegt. Tief durchatmend biegt er in die Auffahrt zu ihrem Haus ein und schiebt sein Fahrrad in den Carport. Ihm ist schwindlig und seine Knie zittern. Er braucht dringend eine Runde Schlaf, danach ist noch genug Zeit, um darüber nachzugrübeln, wie es jetzt weitergehen soll.
Als er durch die Hintertür in die Küche kommt, sitzen seine Eltern am Tisch, ohne miteinander zu reden. Keiner von beiden blickt hoch, als Lukas unsicher zum Kühlschrank geht und sich ein Tetrapak Milch rausnimmt. Im ersten Moment denkt er noch, sie hätten da schon die halbe Nacht gehockt und auf ihn gewartet, und er überlegt, ob er einfach behaupten soll, er wäre nach dem Konzert noch mit zu Jannik gegangen und da dann aus Versehen eingeschlafen. Oder so. Aber dann bemerkt er
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