Stoerfall in Reaktor 1
und schiebt ihr den geliebten Stoffaffen unter den Arm, damit sie ihn beim Aufwachen gleich vor sich hat. Aus dem Nachbarzimmer hört er seine Eltern leise reden. Das Gemurmel hat etwas Beruhigendes, fast so, als wären sie eine ganz normale Familie. Ohne irgendwelche Probleme …
Lukas liegt kaum in seinem Bett, als ihn schon der erste Traum erwischt. Und natürlich kommt Hannah darin vor. Sie sind irgendwo weit weg, am Meer, aber es ist nicht Sommer, sondern stürmisch und kalt, die Wellen rollen unablässig gegen den Strand an, türmen sich haushoch und brechen gischtend in sich zusammen. Lukas findet ein Kinkhorn. Er wischt den Sand ab und hält es Hannah hin: »Wenn du es ans Ohr hältst«, brüllt er gegen das Tosen der Wellen an, »dann rauscht es wie alle Ozeane dieser Welt zusammen!« – »Ich höre nichts!«, ruft Hannah lachend zurück. »Es ist zu laut hier!« Der Wind zerrt an ihren Haaren, und plötzlich reißt er ganze Büschel von ihrer Kopfhaut, immer mehr, bis Hannah völlig kahl ist. Und dann ist es plötzlich nicht mehr Hannah, die vor ihm steht, sondern Karlotta. Und ihr Gesicht ist tränenüberströmt. »Mir ist so kalt«, schluchzt sie, »ich hab meine Mütze verloren!« Auch Karlottas Stoffaffe ist da, mit schlenkernden Armen hüpft er hinter den flatternden Haarbüscheln her und versucht laut schimpfend, sie wieder einzusammeln. »Nicht!«, brüllt Lukas, als er sieht, dass der Affe sich jedes Büschel, das er erwischt, in den Mund steckt und runterschluckt. »Gib meine Haare wieder her, du blödes Vieh!«, ruft Karlotta weinend, aber der Affe hat plötzlich ein Moped, mit dem er sich schlingernd durch den Sand quält, und dann sitzt Lukas selbst auf dem Moped und rast dicht am Flutsaum entlang. Ein paar fette Möwen fliegen ärgerlich kreischend hoch und lassen sich vom Wind davontragen. »Pass auf, wo du hinfährst!«, ruft Hannah dicht an Lukas’ Ohr. Sie sitzt direkt hinter ihm und klammert sich an ihm fest, die Arme um seinen Bauch geschlungen. Er spürt, wie sie ihr Gesicht gegen seinen Rücken drückt und wie ihre Tränen sein T-Shirt durchnässen. »Wir müssen meine Schwester finden!«, ruft er über die Schulter zurück. »Sie hat ihre Mütze verloren!« Dann kommt eine Welle, die sich immer weiter auftürmt, höher als alle anderen Wellen bisher, grau und schmutzig. Gierig wie ein alles verschlingendes Monster bricht sie über den Strand herein, Lukas versucht verzweifelt, noch auszuweichen, aber es ist schon zu spät, die Welle reißt das Moped unter ihm weg und die tosenden Wassermassen wirbeln ihn kopfüber auf den harten Sand, wo er liegen bleibt, bis Hannah sich über ihn beugt, ihn küsst und flüstert: »Du musst besser aufpassen, bei solchen Wellen musst du einfach drunter durch tauchen, dann passiert dir nichts.« – »Weiß ich doch«, antwortet Lukas lachend, und als Hannah seinen Mund sucht, spürt er, wie ihre Haare ihn an der Nase kitzeln. Dann ist plötzlich alles nur noch weiß um ihn herum, hell und warm, und er lässt sich einfach fallen und denkt nicht mehr und hat keine Angst mehr …
Lukas wird wach, weil ihm die Sonne direkt ins Gesicht scheint. Er blickt auf die Uhr auf seinem Schreibtisch. Schon kurz nach zehn, er hat fast sechs Stunden geschlafen, doch es kommt ihm so vor, als seien es gerade mal zehn Minuten gewesen.
Er schwingt die Beine aus dem Bett. »Bescheuerter Traum«, murmelt er halblaut vor sich hin, aber er erinnert sich ohnehin nur noch an Bruchstücke, wirre Bilder ohne jeden Zusammenhang. Als ihm das Kinkhorn wieder einfällt, das er für Hannah aus dem Sand gegraben hat, um es ihr zu schenken, zieht er grinsend den Schuhkarton unter seinem Bett hervor. Sein Museum! In dem er seit Jahren schon alles sammelt, was ihm wichtig erscheint. Lauter Sachen, mit denen außer ihm kaum jemand etwas anfangen könnte, aber für ihn haben sie eine Bedeutung und nur darum geht es. Ein paar alte Fotos von seinen Eltern, die er heimlich aus dem Album genommen hat, aus der Zeit, als sie ungefähr so alt waren wie er jetzt. Auch das Selbstauslöserbild, von dem ein Abzug bei Hannah an der Wand hängt, ist in dem Karton – Hannah und er mit Karlotta auf der Sandbank am Fluss. Außerdem ein kleines Blechschild mit der Aufschrift »Vorsicht, frisch gebohnert!«, das er im Hausflur bei seiner Oma abgeschraubt hat. Die Autoschlüssel von ihrem alten Opel, mit dem sie früher in den Ferien immer in die Berge oder ans Meer gefahren sind. Der erste Schnuller von
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