Stoerfall in Reaktor 1
»Hier, für dich! Ist gut, mit Zitrone!«
Karlotta nimmt das Päckchen, ohne etwas zu sagen.
»Man sieht sich!«, meint Jannik ein bisschen verunsichert und steigt auf sein Rad. Er winkt noch mal und kurvt dann klingelnd an einer Familie vorbei, die sich gerade gegenseitig fotografiert. Mutti und die beiden Kinder vor der Demonstration. Vati und die beiden Kinder. Nur die beiden Kinder, ohne Mutti oder Vati. Und noch mal nur die Demonstration, ohne Mutti, Vati oder die Kinder. Aber dafür mit den beiden Kühltürmen des AKW s im Hintergrund.
Touristen, denkt Lukas. Echt krass drauf. Fehlt nur noch, dass sie als Nächstes ein Foto von Karlotta und ihm machen. Echte Homies vom Abenteuerurlaub in Wendburg!
Karlotta zupft ihn am Arm und streckt ihm das Kaugummipäckchen hin. »Das will ich nicht. Das hat er mir nur gegeben, weil ich ihm leidtue. Aber ich mag sowieso keine Zitrone. Bäh, voll eklig! Können wir jetzt weiter?«
Lukas nickt, steckt die Kaugummis in seine Hosentasche und schiebt Karlotta ein Stück weiter, bis sie zwischen den anderen Leuten stehen.
Zwei Polizisten versuchen gerade, mit Lukasâ Mutter und den anderen Demonstranten zu reden, die auf einer Plane sitzen und dadurch die Fahrbahn blockieren. Leonies Mutter ist nicht dabei, aber Lukas sieht ein Foto von Leonie, das an einer Vase mit frischen Sommerblumen lehnt. Mit einem Trauerflor an der oberen Ecke und ein paar brennenden Kerzen davor auf dem Boden. Er hört, wie seine Mutter gerade sehr laut sagt: »Nein, wir bleiben hier sitzen. Wenn Sie wollen, dass wir die StraÃe frei machen, müssen Sie uns schon wegtragen. Aber wir werden trotzdem wiederkommen, jeden Tag, irgendjemand von uns wird immer hier sein, bis uns endlich jemand zuhört.«
Ein Polizist hebt ratlos die Hände, sein Kollege spricht nervös in das Funkgerät unter seiner Achselklappe.
Das Seitenfenster des schwarzen Audis ist mittlerweile heruntergelassen, Lukas erkennt eindeutig das Profil von Koschinski, auch er hat ein Telefon am Ohr.
Inzwischen ist die Gruppe der Schaulustigen noch mal deutlich gewachsen, fast alles Leute aus dem Ort, ein paar Frauen wischen sich über die Augen, und die alte Frau Plaschetzki, »die Hexe«, verteilt Kaffee aus einer Thermoskanne an die Mitglieder der Selbsthilfegruppe.
Irgendjemand ruft laut: »Gut so! Irgendwas muss ja mal passieren!«
»Aber was soll das?«, mischt sich jemand anderes ein. »Das bringt doch alles nichts! Das ist doch genauso wie diese Aktion vorgestern Nacht, das macht nur alle verrückt, aber ändern wird sich sowieso nichts!«
Innerhalb von Minuten entsteht eine hitzige Diskussion, Karlotta hört mit offenem Mund zu und rutscht in ihrem Rollstuhl aufgeregt hin und her. Lukas wirft einen Blick zu Jannik hinüber, der unbeteiligt am Rand der Menschengruppe steht. Ganz kurz erwidert er Lukasâ Blick, dann dreht er sich abrupt um, als hätte er endgültig genug gesehen, und fährt auf seinem Fahrrad davon.
Gleichzeitig biegt von der LandstraÃe her ein schwarzer Phaeton in die Zufahrt ein, Lukas sieht, wie Jannik stutzt und irritiert wieder anhält. Auch er erkennt offensichtlich den Wagen wieder â der gleiche Phaeton hatte neulich nachts in der SeitenstraÃe neben dem Rathaus geparkt, aber weder Jannik noch er hatten irgendeinen Rückschluss daraus gezogen, auch später nicht, als sie von Alex erfahren haben, dass der Bürgermeister zur gleichen Zeit in seinem Büro gewesen ist. Aber jetzt ist die Sache klar: Das ist der Direktor des AKW s, sie alle haben seine Luxuskarre schon oft genug im Ort gesehen, wenn der Fahrer beim Bäcker frische Brötchen geholt hat oder bei irgendwelchen anderen Gelegenheiten. Und wenn der Phaeton nachts vorm Rathaus stand, dann war also mit Sicherheit auch der Direktor bei dem heimlichen Treffen im Büro des Bürgermeisters dabei! Womöglich hat sein Fahrer sogar im Auto gewartet und Jannik und ihn gesehen! Nein, versucht Lukas, sich selber zu beruhigen. Das Einzige, was er gesehen haben kann, waren zwei Typen auf einem Moped mit schwarzen Kapuzen über dem Kopf und schwarzen Schals vor dem Gesicht. Unmöglich, dass er sie wiedererkennen könnte. Dennoch ist er fast beruhigt, als er sieht, dass diesmal der Direktor selbst gefahren ist und niemand sonst im Auto sitzt.
Noch während der Direktor aus seinem Wagen steigt â wobei er es schafft, gleichzeitig
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