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Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Stoerfall - Nachrichten eines Tages

Titel: Stoerfall - Nachrichten eines Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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welchen Halbwertszeiten Caesium zerfällt? Oder Strontium? – Das werden sie uns schon noch mitteilen, habe ich gesagt. Es soll ja Nuklide geben, die benötigen hunderttausend Jahre für ihre verdammte Halbwertszeit. – Da hat sie gesagt: Obszön, findest du nicht? und auf jene irre Weise gelacht, die mich sonst manchmal an ihr irritiert. – Allmählich, habe ich ihr gesagt, finge ich an, sogar ihr Lachen zu verstehen. – Die Realität holt mein Lachen ein, meinst du das? hat sie gefragt, und ich habe gesagt: Ungefähr so. Nun, hat sie gesagt, können sie doch aber nicht mehr behaupten, daß sie jedes Ding und jedes Problem in den Griff kriegen. Also mag auch dies sein Gutes haben, wie? Da wir uns doch sowieso angewöhnt haben, verkehrtherum zu denken? – Ich habe gesagt, da würde ich nicht so sicher sein. Aus irgendwelchen Gründen stehe der Glaube, daß es für alles und jedes eine technische Lösung gibt, immer wieder auf. – Ja, hat sie erwidert. Ob ich übrigens auch an mir beobachte, daß irgend etwas in mir geil sei auf diese bösen Nachrichten jede Stunde? Eine finstere Schadenfreude, gegen uns selbst gerichtet? – Leider verstünde ich das, habe ich gesagt. – Na sieh mal, hat sie gesagt. Da wären wir schon zwei. Also sollten wir die ganze Angelegenheit vielleicht unter dem Gesichtspunktunserer Mitschuld untersuchen. – Ein bißchen viel verlangt, habe ich gesagt. – Mitverantwortung? hat sie vorgeschlagen. – Du sagst es, habe ich erwidert.
    ... doch jene Wolke blühte nur Minuten
    und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.
    Hoffentlich. Hoffentlich nur Minuten, hab ich da nur denken können, obwohl dies ja ein Lied aus der Zeit ist, da Wolken »weiß« waren und aus Poesie und reinem kondensierten Wasserdampf bestanden. Nun aber, habe ich gedacht, während ich die gekochten Kartoffeln abpellte, durfte man gespannt sein, welcher Dichter es als erster wieder wagen würde, eine weiße Wolke zu besingen. Eine unsichtbare Wolke von ganz anderer Substanz hatte es übernommen, unsere Gefühle – ganz andere Gefühle – auf sich zu ziehen. Und sie hat, habe ich wieder mit dieser finsteren Schadenfreude gedacht, die weiße Wolke der Poesie ins Archiv gestoßen. Sie hat, von heut auf morgen, diesen und beinahe jeden Zauber gebrochen.
    Bratkartoffeln. Spiegelei. Grüner Salat. Milch. »Die einfachen Essen sind die besten.« Endlich, Lieber, mischt sich deine Stimme auch noch ein. Wir werden einen Tag und eine Nacht brauchen, zu bereden, was wir in dieser Woche erfahren haben. Ich werde dir nicht vorhalten, daß der Zeitpunkt, dich von mir zu entfernen, ungünstig gewesen ist. Wo du jetzt bist, höre ich, sei die Schadstoffimmission nach dem Reaktorunfall konzentrierter als hier, woich jetzt bin. Soll uns das empören? Beunruhigen? Sollen wir unsere Gefühle durcheinanderbringen lassen; sollen wir sie, was schlimmer wäre, als unerheblich unterdrücken? Unerheblich, gemessen an den Werten der Geigerzähler? Ich weiß, was du sagen willst. Sag es nicht. Ab morgen, habe ich beschlossen, werde ich die Milchmenge reduzieren und den grünen Salat meiden. Heute, habe ich mir vorgenommen, werde ich noch einmal alles essen und trinken ohne eine Spur von schlechtem Gewissen. Jene immer häufiger auftretende innere Instanz in mir hat, ungebeten, damit begonnen, mir vorzurechnen, in welchem Alter mich die Spätfolgen der Mahlzeiten dieser Tage ereilen werden, falls diese Mahlzeiten strahlende Substanzen enthalten, deren Halbwertszeiten ... Hier hat der stille beharrliche Rechner in mir wechselnde Werte eingesetzt, und ich habe mich auflachen hören, höhnisch. Dreißig Jahre? Ach, mein Bester! Und damit gedenkst du im Ernst, mich zu schrecken? Der Vorteil heutzutage, älter zu sein. Also sag ehrlich: Möchtest du heute zwanzig sein? Zehn? Die innere Gebärde des Entsetzens: Nur das nicht! Das hat meinem intimen Feind als Testergebnis gereicht. Er hat mich ganz in Ruhe essen lassen, das Geschirr abwaschen. Aus dem Radio habe ich gehört, daß es dreizehn Uhr fünfundvierzig gewesen ist. Da habe ich mich dastehen sehen, das Geschirrtuch noch in der Hand, und habe mich lauthals singen hören. Das Lied von der Freude. Wir betreten wonnetrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Wassoll das nun wieder bedeuten, habe ich mich ganz verdutzt selber fragen müssen. Freude! Freude –
    Da ich mir dieses Signal aus sehr tiefen Schichten meines Bewußtseins sonst gar nicht hätte erklären können, habe ich beschlossen, dich,

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