Störgröße M
Wie ein leiser Gesang ertönte vereinzelt ein Wort, wurde aufgenommen, vervielfältigte sich in immer mehr Kehlen, erhob sich über die Köpfe, riß die Blicke mit sich, die Münder förmlich, so daß der Hymnus sich ungehemmt entfalten konnte.
»Schwarz!« Der Transcoder übertrug das Wort. Schwarz! Auf isobanisch ein klingender Laut. In vielfachen Tremoli überlagerte sich die Melodie dieses einen Begriffs, schwebte wie vom Wind getragen auf und nieder, klang im Sopran, verrollte dumpf.
Unbemerkt war in die Mitte des Tempels eine Gestalt getreten. Sie hatte die Arme wehrhaft erhoben. Antlitz und Körper waren schwarz verhüllt.
Unbeweglich predigte der Kanzlist Liebe – die Liebe zur Finsternis. Den Sinnen, die die Dunkelheit benötigten, huldigte seine Rede, und er fluchte der Liebe, die allein die Augen gebraucht.
»Denn, Freunde der lichtlosen Nacht«, rief er, »sind wir nicht geboren als eine Einheit von Sinnen, eine Einheit, die über das Individuum hinausreicht? Sind wir nicht durch das Netzwerk des Tastens und Fühlens, des Sehens und Hörens miteinander verkettet? Müssen wir uns nicht die Fähigkeit erhalten, einander erleben zu können, auch wenn wir uns nicht mit Blicken zu ermessen vermögen? Pflegt die Sinne, die euch die Natur gegeben! Genießt die Finsternis! Bereitet euch vor auf den Tag, dem wieder eine wahrhaftige Nacht folgen wird!«
»Wovon spricht er?« flüsterte Grünspan.
»Von vertrauten Dingen«, erwiderte Penser verhalten.
Der Prediger, diesen Titel gab ihm Grünspan, fand bewegende Worte, mit welchen er die Werte pries, die seiner Meinung nach untrennbar mit der Nacht verbunden waren: die Geheimnisse zärtlicher Ahnung. Die unermeßbaren Abgründe der Phantasie. Das Empfinden von Nähe, von Enge und Weite, was er direkt von der Räumlichkeit auf ideelle Gegenstände bezog.
Ein Sophist, stellte Grünspan im stillen fest, jemand, der die Normen der zivilisierten Welt auf den Kopf stellt, intellektuelle Extravaganz. Sie beten die Schwärze an! Lächerlich! Wohin ihn auch seine Wege geführt hatten, überall im Kosmos verband sich die Vorstellung von Freude mit Licht, auf Dunkelplaneten wie auf überhellen. Schwärze, das ist der Tod, selbst wenn er hier und da in der Reinheit des Weiß erschien. Die Eindringlichkeit des Redners entriß ihn seinen Überlegungen.
»Wenn wir nicht in Isolation zurückfallen wollen, müssen wir uns zu unserer isobanischen Pflicht bekennen, alle unsere Sinne zu gebrauchen. Denn erst sie ermöglichen dem Intellekt, die Grenzen des Ich zu durchbrechen, erst sie machen uns zu den kommunizierenden Wesen, die eine neue, höhere Lebensqualität fordern und verwirklichen können. Wie weit haben uns der ewige Tag, das Dogma vom permanenten Sonnenschein, die uns als optimal aufgezwungene Temperatur davon entfernt! Nur gemeinsam können wir den Kampf gegen die Meteorologen aufnehmen. Wir brauchen einander. Doch wie wenig suchen wir einander!«
Das spärliche Licht erlosch, und aus der Dunkelheit erhob sich seine Stimme noch einmal: »Sucht euch in der Finsternis! Findet euch! Vertraut euren tastenden Händen, euren Nasen und Ohren. Nur einen Sinn hat der Tag, die Nacht hat viele!«
Wie eine Flut stieg rings um Grünspan ein Scharren und Raunen empor. Körper stießen gegen ihn, Hände tasteten, Flüstertöne bedrängten sein Ohr. Hilfesuchend streckte er die Hand nach Penser aus. Seine Finger schlossen sich um einen Arm. Er erkannte die Stimme.
»Sie, Mehorella?«
»Herr Grünspan! Ich freue mich, Sie hier zu treffen. Wir sehen uns noch. Das Fest hat eben erst begonnen.« Er wurde abgedrängt. Ein Stoß schleuderte ihn gegen einen knochendürren Leib. »Herrgott, Penser, wo haben Sie denn gesteckt? Verraten Sie mir um Himmels willen, was die suchen. Was soll der Mummenschanz?«
»Das ist ein Spiel mit ernstem Hintergedanken. Bekannte, Freunde, Geliebte suchen einander. Die ersten, die sich gefunden haben, erhalten eine Art Ehrentitel. Ich habe das den Gesprächen entnommen…«
Im allgemeinen Tumult ging seine Stimme unter. Lachen kündete von ersten Erfolgen. Rufe der Begeisterung brandeten auf. Über Grünspans Gesicht tasteten zarte Finger. Ein Hauch von Worten wärmte seine Wange.
»Granoveda! Wie haben Sie mich gefunden?« Damit die nächste Welle sie nicht forttrug, mußte er sie mit beiden Armen umfassen. Sie wirkte unter seinen Händen wie ein Halm. Ihm war, als sähe er sie mit ihnen. In der Schmiegsamkeit ihrer Schultern sah er ihre Freude, in der Hitze ihrer
Weitere Kostenlose Bücher