Störgröße M
besitzen muß zu leben, wie es ihm beliebt.
Lebt der Zivilleutnant Dincklee wie ein Mensch? Nützt er der Gesellschaft, indem er zu ihrem Fortbestand beiträgt? Eine heikle Frage, denn sie reichte in die Zukunft. Was brauchte dieser Fortbestand? Es war etwas Unergründbares. Es gab Worte dafür, es gab Definitionen. Es gab eine Erfahrung. Aber nichts, was die Zukunft beweisen konnte. Jene kannten die Zukunft? Sie waren ihm unbegreifbar. Er sehnte sich nicht nach ihrem Dasein. Es kann ein Mensch nicht bedauern, daß er den Geschmack von Röntgenstrahlen nicht empfinden kann. Röntgenstrahlen hätten keinen? Wie töricht.
»Was benötigen Sie?«
Anstelle des körperlosen Kommandanten antwortete Choyteler. »Als erstes brauchen wir Treibstoff und Energie. Weiterhin Lebensmittel für meine Person.«
»Das verstehe ich«, sagte Dincklee. »Sie haben sehr viel entbehrt. Haben Sie Lieblingsspeisen? Wir bringen Ihnen, was Sie wollen.«
»Verstehen Sie«, greisenhafter Diskant entstellte plötzlich Choytelers Stimme, »ich habe fünfundvierzig Jahre lang gedarbt. Ich habe mich geopfert. Ich habe doch ein Recht…«
»Niemand bestreitet das. Ich bin überzeugt, die Erde wird alles tun, Sie zu entschädigen.«
»Die Erde«, flüsterte er.
»Eine Parkbahn«, sagte Kmer, »oder einen Asteroiden. Es kann auch der Mond sein. Jedenfalls ein Ort, wo wir keinen Menschen stören.«
»Ich versichere Sie, man wird Ihre Existenzform respektieren.«
»Die Erde.« Choytelers Augen sahen durch ihn hindurch. Er schien abwesend zu sein.
»Sie mögen den guten Willen haben«, tönte die Stimme des Kommandanten, »aber verfügen Sie auch über die Macht, daß Choyteler bei uns bleibt? Wir brauchen ihn als Kontaktperson.«
»Sie haben vor, sich auszudehnen?« vergewisserte sich Dincklee. »Sie wollen Anhänger Ihrer Lebensform gewinnen?« »Die Erde«, sagte Choyteler. »Ich habe Angst.«
Dincklee wollte ein ärgerliches Lachen ankommen. Er erstickte es im Keim. Verlangte nicht auch er für sich, daß man seine Haltung akzeptierte? Bedauerte nicht auch er die anderen, Jonathan und Irelin?
Aus den Augenwinkeln heraus musterte er den Arzt. Der Mann machte einen durchaus normalen Eindruck auf ihn. Aber welches Ausmaß an Zerstörung mochten fünfundvierzig Jahre Einsamkeit, fünfundvierzig Jahre Hingebung und Opfer für eine winzige Hoffnung in einem Menschen hinterlassen? Hatte er einer Wahnsinnsidee gelebt? Hatte diese unter normalen Umständen nicht einmal denkbare Idee tatsächlich anderen das Leben gerettet? Wie die Antwort auch ausfallen mochte, sie würde in jedem Falle etwas Schauderhaftes darstellen. Entweder war Choyteler das Monstrum oder die siebenundzwanzig oder beide.
»Haben wir nicht ein Recht auf Glück, auf uns selbst?« Er wußte nicht, wer da gesprochen hatte. Das war eine Frage, die er lange nicht vernommen hatte. Wer stellte sie noch? Ein Menschenglück, dachte Dincklee. Ein tagtägliches, gedankenloses. Ein gleichbleibendes. Dieses Glück besaß man wie die Luft zum Atmen. Es war anscheinend einfach da; man hatte es zu ergreifen. Die Verweigerung war sträflich. Das Glück des Zivilleutnants Dincklee wurde schon nicht mehr auf den Katalogseiten der Warenhäuser angeboten, es war nicht mehr das tägliche auf der Basis wohlfeiler Organisation. Es war nirgends definiert, nicht beschrieben und nach Erzeugnisgruppen aufgeschlüsselt. Es erneuerte sich nicht automatisch mit dem Umschlagen einer bedruckten Seite. Es war formlos und glänzte nicht. Es war einen Dreck wert.
»Ich werde«, sagte er mit Nachdruck, »mich mit all meiner Kraft Ihrer Angelegenheit widmen. Dafür verbürge ich mich. Mehr kann ich für Sie nicht tun. Ich wollte, ich könnte es. Leben Sie wohl, Doktor Choyteler.«
Bei seinem Eintritt sah ihm Jeperzon entgegen. Dincklee grüßte, indem er andeutungsweise nickte. Seiner Stimme, fürchtete er, würde man die Erwartung anmerken. Er war gespannt darauf, wie Jeperzon ihn zur Rechenschaft ziehen würde. In seiner unnachahmlich arroganten Sachlichkeit würde er betonen, daß der Zivilleutnant Dincklee wieder einmal eigenmächtig gehandelt hatte. Er würde zwar nicht ausführen, was er selbst während des Gesprächs mit dem »Messenger« richtiger gemacht hätte, aber es würde ihn auch niemand danach fragen. Er würde in der Insubordination herumstochern wie ein Goldgräber in seinem Claim, und bei jedem Fund würde die Gesellschaft begeistert schweigen. Dincklee grinste. Jeperzon lächelte zurück. Das ernüchterte
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