Störgröße M
und Bekannten, denen er nie begegnet war, würden wie Hilfeschreie in seine Ohren kriechen, Würmer, Geschleim, Gesabbere. All dem würde er hilflos ausgeliefert sein und obendrein noch bewundernd fragen müssen, welcher Heldenmut sie so lange…
Die Leitung hatte sich zur Nachtruhe begeben, nicht ohne die halbherzige Weisung um Informierung zu hinterlassen, wenn ein über alle Maßen wichtiger Umstand, Sie verstehen, Zivilleutnant…!
Er würde allein sein. Der erste Mensch, dem sie nach einem halben Jahrhundert begegneten. Er war ihr Gott Hoffnung.
Klugheit und Güte schienen dem Blick des Alten Helle zu verleihen. Volles, erst graumeliertes Haar umschloß sein Haupt wie eine Dornenkrone. Er mußte die Siebzig weit überschritten haben. Also war er damals etwa dreißigjährig. Ein Greis, senil? Seine Falten und Runzeln, die schlaffen Lider, konnten nicht den wachen Geist verbergen, der ihr Spiel noch kraftvoll steuerte. Weder durchrissen sie die Haut mit dem schroffen Schwung der Enttäuschung, noch überzogen sie sie mit der Laschheit der Resignation. Unter den Lidern hervor traf ihn ein forschender Blick.
»Mein Name ist Choyteler.«
Mit einem Blick überflog Dincklee die Liste. »Doktor Choyteler! Ich bin Zivilleutnant Dincklee von der Basis ›Japetus‹.«
»Wir haben es uns lange abgewöhnt, Titel zu gebrauchen.«
»Sie sind der Arzt der Expedition. Kann ich mit dem Kommandanten sprechen?« Ohne sich nochmals der Liste bedienen zu müssen, hatte er den Namen zur Hand. »Oder ist Kapitän Kmer verhindert?«
Kaum merkbar bewegte Choyteler den Kopf.
»Ist er krank?«
Der Arzt rührte sich nicht von der Stelle. »Sie können ihn sprechen.«
Dincklee wartete. Schließlich sagte er ein wenig irritiert: »Würden Sie ihn bitten, vor der Tastik zu erscheinen.«
Der Alte lächelte. »Das wird unmöglich sein.«
Dincklees Blick tastete den Raum um Choyteler ab. »Wie soll ich das verstehen?«
»Lassen Sie es sich von ihm selbst erklären. Das wird das beste sein.«
Choytelers Worte zeugten ohne Zweifel von Entgegenkommen. Sein Ton war freundlich. Dincklee beruhigte sich. Sein Mißtrauen war offenbar unbegründet. Er hätte Jeperzon rufen müssen, aber er fühlte sich der Situation durchaus gewachsen. Den Bruchteil einer Sekunde nur wurde er schwankend. Jeperzons absehbare Empörung gab den Ausschlag. Mit ironischer Lust malte er sich den Augenblick aus, in welchem Jeperzon überlegen mußte, ob er ihn genauso herunterkanzeln konnte wie Irelin. Tausend gegen eins versicherte er sich, daß er es nicht noch einmal wagen würde.
Er gab es auf, irgend etwas in Choytelers Hintergrund zu identifizieren. »Wo steckt er? Holen Sie ihn her.«
Choyteler rückte ein wenig zur Seite. Sein Arm wies andeutungsweise in die Tiefe des Raums. Aber da war nichts anderes zu erkennen als Armaturen sowie eine schmale Türöffnung. Sein spöttischer Blick begleitete Dincklees Suche.
»Ich versichere Sie, was Sie erwartet, überschreitet selbstverständlich Ihr Vorstellungsvermögen.«
»Hätten Sie die Güte, sich deutlicher zu artikulieren!«
Der Arzt kniff die Augen zusammen. Sein Ruf klang lockend, als richte er sich an ein durchaus vertrautes Wesen, einen Hund oder einen Kranken.
»John Kmer, melde dich!«
Die Stimme, die ihm antwortete, hatte etwas vom Tonfall sehr alter akustischer Konserven.
»Ist es wesentlich?«
»Verzeih, mein Lieber, wenn ich eure Gemeinsamkeit stören muß. Die Verhandlungen mit der Erde kündigen sich an.«
»Ausgezeichnet. Ich werde mich sammeln.«
Woher kam die Stimme? Mit einer Geste bat Choyteler ihn, sich zu gedulden. Es geschah nichts, wenigstens nichts Sichtbares, und des Arztes Miene verriet nicht die leiseste Spur. Wie in Verzückung waren seine Lider halb geschlossen. Doch mit Kmers ersten Worten zuckte seine Hand hoch, als dirigiere er ein Orchester.
»Ich bin bereit. Mit wem spreche ich?«
Choytelers Hand fuhr in einem krampfhaften Ausfall durch die Luft. Gesicht und Arm erschlafften.
Dincklee konnte nicht umhin anzunehmen, daß die Frage an ihn gerichtet war, und stellte sich vor. Sein Blick irrte von Choyteler ab, »Sehen Sie mich, John Kmer?«
Die Stimme bestätigte ihm eine ausgezeichnete Sichtverbindung.
Dincklee äußerte die Bitte, seinen Gesprächspartner von Angesicht zu sehen.
Ein leichtes Lachen plätscherte heran, sprühte wie Gischt über ihn. Unwillkürlich preßte er den Rücken gegen die Lehne. Die Leere neben Choyteler strengte seine Augen an. Es war ihm unmöglich zu erkennen, ob
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