Störgröße M
Sendeenergie. Langsam drifteten wir der Sonne entgegen, und niemals in den vergangenen fünfundvierzig Jahren kam uns ein Raumschiff nahe genug. Die Geschichte ist nicht neu. In dieser oder jener Form hat sie sich auch schon auf der Erde zugetragen. Eine pure Wiederholung – könnte man meinen.
Mit den vorhandenen Mitteln hätte sich unsere konventionelle Existenz nur mehr ein paar Jahre lang gewährleisten lassen. Die Chancen, daß man uns innerhalb dieses Zeitraums finden würde, hielten wir a priori für gering. Wir hatten Vorräte für fünf Jahre. Was braucht ein Körper nicht alles!« rief er aus. »Nahrung. Wärme, Sauerstoff! Und wie wenig weiß er damit anzufangen.
Unsere Körper sind nicht mehr. Phasotyronische Matrizen übernahmen alle biodynamischen Impulsgrößen, die aus den Speichermolekülen des Gehirns abrufbar waren. Welche Leistung solch ein Experiment darstellt, ist Ihnen vielleicht nicht klar. Es bedurfte Choytelers Genialität und seines Mutes. Es gab keinen Präzedenzfall, keine Vorschrift, keine Erfahrung. Er schuf, in wenigen Wochen nur, die Voraussetzungen für unsere Weiterexistenz im Speicher des Schiffsphasotyrons. Damit griff er der Entwicklung um mindestens fünfzig Jahre voraus. Doch man kann den Erfolg nicht spektakulär nennen. Choyteler mußte, um den Vorgang der Konvertierung überwachen zu können, seinen Körper behalten. Er konnte nicht teilhaben an seiner Schöpfung. Er mußte auf das Höchste verzichten. Wir haben ihm zu danken.«
»Aber wie…«, Dincklee lauschte seiner brüchigen Stimme nach. Er begegnete unvermittelt Choytelers Blick. Diesen Glanz kannte er wie etwas Eigenes. Faszinierte ihn die Ungeheuerlichkeit, das Unfaßbare? Er bewegte sich seine eigene Grenze entlang und zog sich zurück. Wohin? Fremdheit lauerte. »Wovon leben Sie? Worin besteht Ihr – Höchstes?«
»Unsere Lebensenergie beziehen wir im wesentlichen von den Teilchen der Kosmosstrahlung. Viel mehr benötigen wir nicht. Es wird Ihnen schwerfallen, eine Vorstellung von der Lust zu gewinnen, die die Begegnung mit einem Gammaquant erzeugt, welches zugegen war, als Nero Rom anzünden ließ, oder mit einer Kohlendioxidmolekel, welche Andromache ausatmete, als sie Neoptolemos empfing. Wir können Alexander sein oder Nofretete. Wir können wie sie denken und empfinden. Wir können alle Stationen eines jeglichen Lebens aufspüren. Wir können alle Zustände der Welt in der Vergangenheit und in der Zukunft erfahren, denn wir sind mehr als der Maxwellsche Dämon. Wir – nur wir – sind imstande, die Welt zu erkennen. Indessen, wir sind nur siebenundzwanzigfach, und unserer Erkenntnis in der Zeit setzen sich Grenzen. Aber eines Tages werden wir mehr sein, Hunderte, Tausende vielleicht.«
Betroffen lauschte Dincklee in das Schweigen. War der Superlativ von ungeheuerlich zu steigern? Menschen ohne Körper? Waren das noch Menschen? Sein Blick fiel auf seine Hände. Adern wölbten die Haut. Sehnen strafften sich. Was alles hatten diese Finger schon berührt, ertastet, gepackt! Er sah sie vor sich, als ein Teil von sich selbst, schlank und kräftig, umkleidet von hellbrauner Haut. Was aber sahen sie von sich? Was ertasteten die Körperlosen? Spürten sie die Körper von Nofretetes Geliebten? Überfiel sie das Zittern perverser Entrückung beim Anblick der brennenden Metropole? Es kam ihm vor wie Selbstbetrug.
Betrug, Traum, Suggestion, Wirklichkeit. Wo war die Grenze? Der Hypnotisierte fühlt den Schmerz der suggerierten Wunde. Der Träumende erlebt die Lust, die er sich erträumt. Aber beide sind sie dem nicht ausgeliefert.
Kmer und Genossen könnten die Welt erkennen? Was für ein Gedanke! Und doch, er erschien ihm unvollständig. Etwas Wesentliches schien zu fehlen. Vermißten sie nichts? Erinnerte sie nichts an ihr früheres Leben? Lebten sie tatsächlich mit so unvorstellbar anderen Gefühlen und Gedanken? Er dachte an Irelin. Sie oder Nofretete? Er behielt sein Lachen für sich. Konnten sie zum Beispiel Wut empfinden, Wut über Nofretete? Schmerzte sie der Gedanke an die königliche Geliebte? Wieder trug sie in seinen Gedanken Irelins Antlitz, und Ollstein und Jeperzon stellten sich daneben. Über allem stehen, über alles erhaben sein? Was für ein langweiliges Leben. Schmerz, Wut, Erleichterung, Freude, Sieg, Niederlage. Das erschien ihm wichtiger, als über den abstrakten Sinn des Daseins nachzugrübeln.
Es kann sein, sagte er sich, daß ich ungerecht bin. Es kann sein, daß jeder Mensch das Recht
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