Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
Vom Netzwerk:
Schönheit,
wie sie mitunter Verstorbenen eigen ist, denen der Tod alle
Zwänge und Bedrängnisse genommen hat. Die Kruste täglicher
Schminke war abgestreift. Darunter offenbarte sich das Gesicht
eines Augenblicks, und so durchscheinend kamen ihm ihre
Lider vor, daß er den Blick aus frostklaren Augen zu spüren
meinte. Als der Behälter sich zurückzog, überkam ihn eine
beklemmende Idee.
Schlafwandlerisch verließ er den Raum, beladen mit der
vermeintlichen Schuld ihres Todes. Was hatte sie miteinander
anderes verbunden als ein freundlich kollegiales Verhältnis?
Und doch kam es ihm vor, als hätte er eben von der Geliebten
Abschied genommen. »Wie können es nicht tun«, murmelte er.
»Wir können sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Wie
kann ich denn weiterleben, wie soll ich…?«
Der Kommandant rief nach ihm. Dünn quälte sich die Stimme
aus der Brusttasche hervor. Er nahm das Gerät in die Hand.
Zwergenhaft lächelte ihm Monteverdi entgegen. »Wo treibst du
dich herum?«
»Ich war bei ihnen.«
»Es ist nicht gut allein.«
»Kann man die Revitalisierung beschleunigen?«
Vanderboldts Köpf wurde hinter Monteverdi sichtbar. »Man
kann.« Kaum merkbar schob er den Unterkiefer vor. Schmal
und starr fingen seine Augen Drunens Blick ein. »Mit der
Gewißheit, Idioten oder Krüppel zu erzeugen.«
»Komm her«, sagte Monte. »Uns beschäftigt ein Problem,
genauer gesagt, ein Projekt. Ich halte unser aller Meinung für
erforderlich.«
»Meine Meinung, was soll das?«
»Es ist nicht mit drei Worten zu erklären.«
Mißtrauisch musterte Drunen ihn: Was sollte jetzt noch von
solcher Bedeutung sein?
»Beeil dich.«
»Ja, ja«, antwortete er gleichgültig, »ich habe verstanden.« »Es ist Zeit, etwas zu essen«, vernahm er Vanderboldts
Stimme. »Deine Stunde ist um. Mach mir nicht mehr Sorgen
als unbedingt nötig.«
Einen flüchtigen Augenblick lang musterten sie sich. Dann
schaltete Drunen ab.
Befangen in der Einbildung, mit dem Schließen der Tür
endgültig den Verrat an den Kameraden zu besiegeln, betrat er
den Hangar, scheu und ohne Eile.
Hier war das Dröhnen der Bremstriebwerke deutlich zu
vernehmen. Die Gerüche auf Höchstleistung arbeitender
Maschinen und Aggregate schlugen ihm entgegen, ein
vertrautes, scharf-aromatisches Gemisch. Es weckte
Erinnerung, Sehnsucht nach Vergangenem. Gerüche sind der
Indikator verflossener Zeit. Die Triebwerksorgel gemahnte an
das Ende. Merkwürdigerweise erfüllte ihn das wieder mit
Kraft. Ein kleiner Teil von den tobenden Energien sprang auf
ihn über, und er setzte sicherer die Füße auf.
Monteverdi eilte ihm entgegen, nahm ihn bei den Schultern,
schlug ihm auf die Achsel. Seine Augen strahlten.
»Jetzt glaub’ ich’s«, rief er, »du bist kein Gespenst. Du bist
richtig da, alles dran, alles funktioniert. Herrgott, ich freue
mich, ich freue mich.«
Selten hatte ihn Drunen so gelöst erlebt. Vanderboldt und
George stimmten mit ein. Lachten sie aus Freude? Sein Blick
glitt an ihnen ab.
Aber war das nicht das einzig Mögliche, an eine Zukunft zu
glauben, an Arbeit, an Essen, an eine Frau, Freude zu
empfinden, zu lachen. Diese Fähigkeit zu erhalten, lag nicht
darin tatsächliches Heldentum? Doch es galt, eine ganze,
unerforschte Welt zu entdecken. Sie hatten zu tun, was in
ihrem bescheidenen Vermögen stand, um künftigen
Expeditionen ein Beispiel zu geben von menschlicher Größe
und Unbeugsamkeit. Einmal würden sie kommen, und mochte
es in tausend Jahren sein.
Oder sollte er daran glauben, daß die Erde sie aufgegeben
hatte? Abgefunden mit einem Denkmal? In hundert Jahren
würde sich kein Mensch mehr an sie erinnern. Selbst wenn,
was nützte es ihnen? Ihre Situation gebot praktisch zu denken, frei von Kitsch und Phrasen. Sie würden niemals zurückkehren. Sie waren unerreichbar. Mit Recht konnten sie so tun, als seien sie die einzigen Menschen im Universum. Sie waren es! Verpflichtete nicht gerade das? Welche lächerlichen Ängste beherrschten ihn? Was hatten sie denn noch zu befürchten, zu
erwarten?
Monteverdi lachte. »Nun sind wir vier.«
»Zu viert kann das Leben sehr einfach sein«, erwiderte er.
Seine Bitterkeit hoffte auf eine Antwort. Als sie ausblieb,
senkte er den Kopf und faltete die herabhängenden, nutzlosen
Hände ineinander. In dieser Haltung verharrte er.
Während sie saßen, informierte Monteverdi Drunen über die
Ladung. Sorge bereitete ihm das rechte Verhältnis zwischen
wissenschaftlicher Ausrüstung und den Dingen des täglichen
Bedarfs.

Weitere Kostenlose Bücher