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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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romantischen
Vorstellungen hingeben. Das Leben dort unten wird uns alles
abverlangen.«
Vanderboldts Blick erheischte Aufmerksamkeit. All seine
Kraft schien sich um die dunklen, scharfgeschnittenen Lippen
zu konzentrieren. Aber aus seinen Worten klang kein Vorwurf. »Bisher haben wir von uns geredet, von unserem Vertrauen in
unsere Moral.« Ein Lächeln erhellte für Sekunden sein Gesicht.
»Wie wenig hängt es doch von uns ab, wie alles wird. Sie muß
viele Rollen ausfüllen, uns Geliebte sein und Freund, Gefährte
und Vertrauter, Objekt der Neugier und der Leidenschaft, unser
Ursprung und unsere Zukunft.«
»Das ist, verzeih, eine schöne, aber leider theoretische
Vision«, spottete Drunen. »Dein Empfinden der Notwendigkeit
ist durchaus männlich. Werden wir dasselbe nicht auch für sie darstellen müssen? Fragen wir danach, ob es ihr nicht zuviel werden wird, vier Vertraute zu haben und vier Geliebte erst. Wird es dir gelingen, ruhig zu bleiben, wenn sie mit allen
schläft, nur vielleicht mit dir nicht?«
Vanderboldt antwortete nicht. Er neigte nur leicht den Kopf,
vielleicht zustimmend, vielleicht überlegend. Diese Ruhe
wagte Drunen nicht zu zerstören.
»Gehen wir«, sagte Monteverdi nach einer Weile. Zögernd
nickte George. Der Kommandant bestimmte Vanderboldt, die
Verladung der Revitalisierungsanlage zu überwachen. Er selbst
eilte mit George und Drunen in die Zentrale.
In die hallende Leere der Gänge sagte George: »Unser Leben
ist zu Ende. Ohne die Erde ist unser Leben zu Ende. Wir
können sie nicht mehr riechen, nicht mehr fühlen, nicht mehr
sehen. Um uns die Zukunft anzueignen, müßten wir noch
einmal Kinder sein, müßten wir jene Welt als Kinder betreten.« Er wird sentimental, dachte Drunen. Nachsichtig sagte
Monteverdi: »Hör auf, hör schon auf.«
»Es ist überall eine Heimat«, sagte Drunen leise. »Wo eine
Aufgabe ist, eine Gemeinsamkeit, da kann man sich zu Hause
fühlen.«
»Du verstehst nichts«, entgegnete George wütend, »gar
nichts. Was für ein armer Hund du bist.«
Ihr Schritt beschleunigte sich, denn wie ein majestätischer
Vogel glitt die Katastrophe näher, zog lautlos Kreise, enger
und enger.
Nach wie vor erfüllte souveränes Leben die Zentrale. Wollte
man der Betriebsamkeit vertrauen, gab es keine Katastrophe.
Noch immer wogten Lichtwellen durch die Säulen, Sterne
kreisten in den Laureogrammen. Selbstherrlich erteilte das
Gehirn des Raumschiffs Befehle. Unter der Gewalt, die das
Wunder der Rettung vollbringen sollte, erzitterte der Boden. Alles nur Mögliche zu tun verlangte ein göttliches Programm:
Die Götter hatten Angst vor dem Sterben.
Als handele es sich um die simpelste Aufgabe der Welt,
begann George, das Problem zu stellen. Er rief die
persönlichen Speicherdaten der vier Männer ab, die Parameter
des Planeten, bestimmte die Kategorie ihrer moralischen und
sittlichen Problematik.
Seine Finger flogen über Tastaturen und Register. Hier und
da gebrauchte er eine mündliche Formulierung. Die künstliche
Intelligenz hörte, speicherte, verglich, analysierte.
Was gäbe es nicht alles zu sagen, zu erörtern, zu diskutieren!
Nicht die moralischen und sittlichen Werte einer abstrakt
optimierten Persönlichkeit formten ein Bild in Drunens
Vorstellung, als vielmehr ein unbestimmter Wunsch, ein
verschwommenes Gefühl, das er verlegen Forderung der
Realität nannte. In ihrem Auftrag fühlte er sich berufen,
gedanklich Charaktereigenschaften zu formulieren, mit denen
eine Curie, eine Merian, eine Mata Hari, eine Dame namens
Goldlotos oder eine Jeanne d’Arc ausgestattet gewesen sein
mochten. Das Bild hinter kaltblauem Glas glich keiner von
denen. Schlich sich Bedauern in sein Denken? Die überreizten
Sinne gaukelten ihm Empörung vor, Zorn auf jenen
Automaten, der ihre Träume reduzierte, ihre Sinnlichkeit und
ihre Verantwortung. Er dachte, er entschied für sie, in ihrem
Auftrag. Mit einemmal kam Drunen der Vorgang wie eine
Selbstverhöhnung vor.
In völlig undramatischer Weise erschienen auf dem
Bildschirm eine Codenummer sowie ein Name. Drunen
erinnerte sich. 124/6, Catlin.
»Das muß ein Irrtum sein«, bemerkte er steif.
Monteverdi kniff die Augen zusammen. »Hast du was gegen
sie einzuwenden?«
Zusammengesunken stand George vor dem Pult. Noch
kleiner, noch unscheinbarer als sonst wirkte er. »Er hätte gegen
alle etwas.«
Drunen verzieh ihm den Vorwurf. George hatte auf einen
anderen Namen gehofft. Sympathie regte sich in ihm stärker als
früher. Am liebsten hätte er die

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