Störgröße M
Mensch wieder
schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert, hilfloser noch.
Flehentlich kreiste sein Blick.
Messingfarben glänzte auf dem Zentralbildschirm eine
kirschgroße Sonne. Sein Finger tippte einen Sensor an. Rechts
im Bild erschien eine grünblaue Erbse. Harmlos winzig drehte
sie sich im Raum. Zwischen ihnen erstreckte sich ein Abgrund
von Millionen von Kilometern. Was für eine Kunst, dies
Fleckchen zu treffen. Doch mit grauenerregender Genauigkeit
raste das Schiff ihm entgegen, und keine Gewalt der Welt
vermochte, die Bahnen der Gestirne zu ändern.
Aus fast unzerstörbarem Material waren die Wände der
Zentrale errichtet. Das Hirn, das, sie steuerte, verwaltete
Energien von der Kraft der Sonnen. Unvorstellbar schnell
stellte es Berechnungen an, deren Logik unanfechtbar war.
Optimal wurden alle Lebensparameter des Menschen erstellt.
Und trotzdem.
Hinter Schattenwänden zuckten Lichtfontänen auf. Leise,
harte Töne schlugen an sein Ohr. Lautlos, unsichtbar kreisten
die Impulse wie auf Abruf wartende Vernichtungsträger.
Konnte er seiner Phantasie ein treffenderes Gleichnis
abverlangen? Eine eigenständige, autarke Welt umschloß ihn,
so perfekt erdacht, daß sie nichts von außen brauchte, auch
nicht ihn, um zu funktionieren.
Hohn voll blickten Augen auf ihn. Flüsternd beleidigten
kreischende Stimmen sein Empfinden. Fieberwellen strömten
von den kranken Wänden auf ihn nieder. War es nicht wirklich
besser, jetzt zu sterben?
Er sah Vanderboldt mit unbewegter Miene über sich gebeugt:
Exitus! Jetzt waren sie nur noch zu dritt. Einhellig folgend
ihrem lebenslangen Irrtum, würden sie sich abmühen, der
fremden Welt kümmerliche Freuden zu entreißen, bis Lethargie
auch den letzten Rest an Willen zum Erlöschen brachte. Keiner
von ihnen würde sich auflehnen, George nicht, auch nicht
Monteverdi. Vanderboldt schon gar nicht. Im Tod war
Erlösung, jetzt und in aller Zukunft. Die Enttäuschung über
sein nichterfüllbares Leben bohrte ein Loch in sein Denken.
Was immer er tat, es änderte nichts am Ausgang des
Geschehens. Sie zählten so gut zu den Toten wie die anderen.
Die Vorstellung hüllte ihn ein wie ein endloses Leichentuch.
Alle Erfahrungen seines Lebens waren nun nutzlos. Keine hatte
ihn auf diese Situation vorbereiten können. Genau das hatte
ihm sein Leben vorenthalten. Er fühlte sich unfähig, die ihm
zugefallene Rolle auszufüllen, empfand sich als Last für
Vanderboldt, George und für Monteverdi.
Was für einen Organismus stellten sie zu viert noch da?
Welche Kraft trieb sie vorwärts?
Was vermochten sie selbst noch zu bewegen?
Nichts weiter saß ja in ihnen als die animalische Angst vor
dem Tod. Es gab Tausende von Arten zu sterben. Aber welche
wartete auf sie? Vielgerühmte Beispiele der Geschichte fielen
ihm ein, Märtyrer, Opferer, Vorkämpfer für ein besseres
Leben. Stets war deren letzter Weg gepflastert mit
Standhaftigkeit und heroischem Mut. Aber sie hatten Zeugen
gehabt, und seien es nur die Henker gewesen. Niemand würde
ihr Zeuge sein, weder ihres Heldentums noch ihrer
Hoffnungslosigkeit.
Unwillkürlich warf er einen Blick hinter sich. Abschied?
Wovon, von wem? Da blieb nichts zurück, woran sein Herz
gehangen hätte. Mit der ungewissen Absicht, etwas
Vergessenes zu suchen, tastete er sich hinaus.
Durch die Gänge schauerten kalte Lichtintervalle. Ein
Glockenton in Weiß. Er verhielt den Schritt, lauschte und
folgte dem tonlosen Ruf.
Das schwere Schott schwang auf. Auch hier der gleiche fast
unzerstörbare Werkstoff, schützend das Allerheiligste, die
eingefrorenen Seelen.
Den bereitliegenden Schutzumhang ignorierend, trat er ein,
setzte scheu die Füße auf, als könne er jemanden stören.
Lautlos schloß sich hinter ihm die Tür. Bläulichweißes Licht
flammte auf. Der Reflexe geisterhaftes Schweben auf den
unterteilten Flächen rechts und links hielt mit ihm Schritt.
Zwölf bis zum Ende des Korridors, einen pro beziffertes
Quadrat, auf jeder Seite fünf Etagen. Namen las er nicht. Die
froststarren Finger berührten einen Sensor. Mit leisem Schaben
schob sich eins der Quadrate in der dritten Zeile von unten vor,
bis es zwei Meter in den Gang hineinragte.
Er kannte das Bild, das ihn erwartete.
Unter einer Platte wärmedämmenden Kunststoffs lag,
eingefroren in lichtes Blau, ein weiblicher Körper. Hinter
leichtgeöffneten, blassen Lippen schimmerten eisfarben Zähne.
Die Schläuche, die aus Mund und Nase ragten, schienen von
Bernstein zu sein. Sie war von jener beängstigenden
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