Störgröße M
Jahren.
Indem wir auf die Kommenden vertrauen, vertrauen wir auf
uns.«
Gelassen antwortete Vanderboldt: »Der Planet ist ohne
intelligentes Leben. Soviel wissen wir. Wir werden vier
Männer sein, allein in einer gefahrvollen Welt. Bekommst du
es angesichts dessen nicht mit der Angst zu tun? Frühestens in
siebzig Jahren, wenn sie gleich startete, könnte eine
Folgeexpedition hier sein. Aber natürlich warten sie
mindestens bis zur Zeit unserer planmäßigen Rückkehr. Für
wen also willst du den Wegbereiter spielen?«
Boshaft sah Drunen an ihm vorbei. »Hast du vor, bis zu
deinem Ableben oder deiner völligen Verblödung die Hände in
den Schoß zu legen?«
George raffte sich auf. Es kostete ihn sichtlich Anstrengung.
Kurz und scheu funkelten seine Augen. »Wir werden das tun,
wozu wir Lust verspüren, ja? Wann immer es angeht, werden
wir unseren Spaß haben.«
In einem engen Raum lagen gestapelt einhundertzwanzig
Leichen. Menschen, die ihnen mehr oder weniger bedeuteten,
denen sie sich verbunden fühlten als Kollegen, als Freunde,
Geliebte. Sie erstanden vor ihm, als wäre ihr Leben nicht schon
zu Ende. Gesichter! Münder entließen lautlose Worte, deren
Strom ihn zu ersticken drohte wie die Dunkelheit. In
unbegreifbarer Ferne existierte die Erde. Niemand würde je
von ihrem Schicksal erfahren. Was für ein alberner Drang,
etwas zu hinterlassen, eine Wegmarkierung etwa. Eitelkeit?
Gewohnheit? Vielleicht gar menschlicher Stolz? Hatte er sich
diese Phrasen eingebleut, um zu überleben? Wie wir doch von
Gepflogenheiten abhängig sind, dachte er, selbst jetzt noch. Auf dem kleinen Bildschirm des Bordnetzes erschien das
Gesicht des Kommandanten. Er lächelte.
»Wie ich höre, habt ihr ihn wach bekommen. Wir sind also
vollzählig.«
»Er ist ziemlich munter«, sagte George. »Für den Rest
unseres Daseins hat er bereits konkrete Pläne.«
»Seid ihm dankbar«, meinte Monteverdi ohne Spott.
»Wenigstens einer, der Optimist ist. Wir werden ihn bitter
nötig haben. Wenn bei euch alles klar ist, könnt ihr euch auf
den Weg machen. Ich bin so gut wie fertig. Mit den
verbleibenden Kleinigkeiten werden wir uns die Zeit
vertreiben.«
»Ich möchte mich in der Zentrale umsehen. Hast du was
dagegen?«
Monteverdi schüttelte den Kopf. »Tu, was du willst. Wenn
wir dich brauchen, rufen wir dich.« Offenbar in dem Glauben,
Drunen hätte den Raum verlassen, wandte er sich an den Arzt.
»Wie hat er es aufgenommen?«
Vanderboldt zuckte ungeniert mit den Schultern. »Ist bei
einem Typ wie dem seinen schwer einzuschätzen. Ich halte es
für möglich, daß er gar nicht so obenauf ist, wie er tut.« »Konkret.«
»Er neigt zu Phrasen.«
»Das ist nichts Neues«, behauptete der Kommandant.
»Wenngleich, er haßt sie bei anderen. Laß ihn, es hilft ihm.« Schamlos zweifelnd wiegte der Arzt den Schädel. Über das
glänzende Rund huschten Lichtkaskaden. »Er ist nicht leicht
kleinzukriegen. Aber seine Sozialanamnese weist auf eine
gewisse einspurige Entwicklung hin. Wir sollten ihn im Auge
behalten.«
»Ist ja wohl kein Problem«, sagte Drunen von der Tür her
voller Ironie. Weniger die Offenheit verletzte ihn als
Vanderboldts vorgebliche Überlegenheit.
In die Stille der Gänge sickerte gedämpftes Dröhnen. Kühler
wurde die Luft, kalt und unbewegt wie an einem sonnigen
Wintermorgen. Von ferne brauste ein Wasserfall unter dem
Eis. Ihn fröstelte. Er wollte den Lauten entfliehen, die, das
Dröhnen ausnutzend, sein Ohr erreichten, feines Krachen vom
Wispern rauhreifbelegter Zungen.
In der Zentrale summte elektronische Betriebsamkeit.
Hektisch kreisten Lichter in den Laureogrammen. Leuchtende
Wellen, schwebten die Energiesäulen aufwärts, wieder und
immer wieder, solange der Organismus des Raumschiffs es
forderte. Was war passiert?
Weder eine mechanische Zerstörung noch eine funktionale
Desorganisation ließen sich feststellen. Er überprüfte
verschiedene Kontrollwerte. Sie waren einwandfrei zu ermitteln. Die Aufzeichnungen des Speichers gaben Auskunft bis zu einem Zeitpunkt wenige Tage vor ihrem Erwachen. Weiter zurück wurden die Informationen zusehends verworren. Auf die Frage, ob theoretisch eine Störgröße denkbar sei, die das autonome System beeinflussen könnte, schwieg der Automat. Erst nach geraumer Zeit kam stockend eine
verneinende Erwiderung. Das Vorgefallene blieb rätselhaft. Erschöpft von der Anspannung des fruchtlosen Frage- und
Antwortspiels, sank er in den Sessel des Kommandanten. Wie vor Jahrhunderttausenden war der
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