Stolz der Kriegerin
Gesetz des Stärkeren. Also galt es, mögliche Feinde frühzeitig zu entdecken.
☀ ☀ ☀
In den nächsten anderthalb Tagen trafen Rogon und Sung jedoch weder auf Feinde noch auf Verfolger. Die Sümpfe, die sich von hier aus mehr als einhundert Meilen nach Westen und Süden und weit über dreihundert Meilen nach Norden erstreckten, lagen bereits vor ihnen, und die Luft war erfüllt vom Geruch unzähliger Kräuter und modernder Erde. In dieser Gegend kannte sich auch Rogon nicht mehr aus, und so zog Sung Sirrins magische Karte zu Rate, um ihren weiteren Weg zu bestimmen.
Rogon sah ihm über die Schulter und bewunderte die sich verändernden Symbole auf der Schriftrolle. »Mein Vater besitzt eine ähnliche Karte, aber so gut wie diese ist die nicht. Wie bist du daran gekommen?«
»Es ist das Geschenk einer Patientin, die ich von schwerer Krankheit geheilt habe«, behauptete Sung.
Rogon spürte deutlich, dass der Heiler log. »Ich nehme eher an, dass du sie hast mitgehen lassen.«
»Sie ist ein Geschenk!« Sung ärgerte sich über den jungen Mann, der so hartnäckig fragte, und wies nach vorne. »Auf diesem Weg werden wir zu einem der Seitenarme des Großen Stromes kommen. Entweder finden wir dort ein Schiff, das uns mitnimmt, oder du kannst deine Fähigkeiten als Floßbauer beweisen.«
Mit diesen Worten gelang es ihm, Rogons Gedanken von der Karte abzulenken, denn als sie weiterzogen, deutete der junge Mann auf einige Schilf- und Binsensorten, die sich seinen Worten zufolge für den Bau eines Floßes eigneten.
»Es wächst hier höher als am Fluss. Man sagt, die Schlangenmenschen, die in versteckten Winkeln des Sumpfes leben, wären in früheren Zeiten sogar mit Schilfbooten bis in die Heilige Stadt gereist. Doch das ist lange her, denn inzwischen wurden die Schlangenmenschen durch Trophäenjäger beinahe ausgerottet!«
»Es ist schrecklich, dass Menschen Wesen, die uns so ähnlich sind und gleich uns Verstand besitzen, nur deswegen jagen, um sich deren abgezogene Haut an die Wand zu nageln!« Sung schüttelte sich bei dem Gedanken und hoffte gleichzeitig, weder auf einen Schlangenmenschen noch auf einen Jäger zu stoßen.
Sein Wunsch schien sich zu erfüllen, denn sie sahen bereits einen Seitenarm des Großen Stromes vor sich, als Rogon auf einmal hochschreckte.
»Hier stimmt etwas nicht!« Er packte den Heiler und zog ihn in die Deckung einiger Büsche.
Noch während Sung ihn verwirrt anstarrte, vernahmen beide eine laute, befehlsgewohnte Stimme. »Treibt sie in meine Richtung. Aber verletzt sie nicht! Gesund ist sie zehnmal so viel wert, als wenn wir ihr die Haut abziehen!«
»Was geht hier vor?«, fragte Sung mit bleichen Lippen.
»Freistädter, die jemanden verfolgen! Wer die Gejagte ist, werde ich gleich feststellen.«
Ehe Sung ihn aufhalten konnte, huschte Rogon beinahe lautlos davon. Der Heiler durchlebte etliche quälende Augenblicke, dann kehrte der Prinz zurück. »Mehrere Freistädter und ein Flussmäuler! Sie jagen eine Schlangenfrau.«
»Dann sollten wir schleunigst von hier verschwinden. Solchen Leuten will ich nicht begegnen!« Sung zog sich tiefer in die Büsche zurück und holte die magische Karte heraus.
Rogon folgte ihm und packte ihn am Ärmel. »Schlangenmenschen sind heilige Wesen der Ilyna, auch wenn das viele auf dieser Seite des Stromes vergessen haben. Ich werde nicht zulassen, dass einem Angehörigen dieses Volkes ein Leid geschieht.«
»Es ist jetzt nicht die Zeit für Heldentum!«, schalt Sung. »Die Kerle sind bestimmt schwer bewaffnet, und wenn die uns sehen, fangen sie uns ebenfalls und versklaven uns! Ich glaube nicht, dass wir dann je wieder freikommen.«
Zwar hatte Sirrin Sung mit einigen Möglichkeiten ausgestattet, sich gegen Feinde zu behaupten, doch wenn er diese einsetzte, konnte er seine Tarnung als schlichter Heiler nicht länger aufrechterhalten. Außerdem war ihm bekannt, dass die Flussmäuler über starke Artefakte aus dem Schwarzen Land verfügten. Daher war er nicht bereit, ein Risiko einzugehen.
Rogon winkte ab, lief ein paar Schritte und robbte dann flach an den Boden gepresst bis zum Ufer. Hinter einem dichten, hohen Gürtel blau blühender Blumen versteckt, spähte er nach Süden. Die verfolgte Schlangenfrau vermochte er wegen des Schilfes nicht zu erkennen, spürte aber ihre Ausstrahlung wie einen intensiven Duft und konnte daher bestimmen, wo sie sich befand. Drei Männer verfolgten sie mit flachen Booten, und ein vierter Jäger wartete in
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