Stolz und Leidenschaft: Roman (German Edition)
den alten Wachmann ihres Vaters mit einem wohlbemessenen Blick. »Es ist die Pflicht des Laird, darüber Bescheid zu wissen, was in seiner Burg vor sich geht. Vielleicht ist seine Vorsicht auch angebracht, wenn man den Unfall bedenkt, der uns beinahe beide das Leben gekostet hätte.«
Sie hatte mit Seamus noch nicht darüber gesprochen, doch Jamie hatte ihn gleich als Erstes an diesem Morgen über den Vorfall befragt. Der alte Wachmann behauptete, dass sich ein Seil gelöst hatte, während er einen der großen Balken in Position hievte. Das Seil hatte ein anderes Stück Holz von der Plattform gestoßen, und dieses Geräusch war es gewesen, das Jamie auf die Gefahr aufmerksam gemacht und ihnen das Leben gerettet hatte. Jeder einzelne ihrer Clansmänner schwor, dass es ein Unfall gewesen war. Unglücklicherweise war keiner von Jamies Männern in der Nähe gewesen, um das Gegenteil zu beweisen.
Und ohne Beweis widerstrebte es Jamie, den Hass der Lamonts noch weiter zu schüren, indem er Seamus bestrafte. Deshalb hatte er den älteren Mann nur gewarnt: Wenn es noch weitere ›Unfälle‹ geben sollte, dann würde er sich – ›Beweis‹ hin oder her – mit einer Schlinge um den Hals wiederfinden.
»Aye , das war ein schrecklicher Fehler«, meinte Seamus mit unerschrockener Aufrichtigkeit. Caitrina konnte nicht sagen, ob es ein Geständnis war und er damit versuchte, eine Art Entschuldigung vorzubringen.
Sie sah ihm fest in die Augen. »Seamus, versprich mir, dass so etwas nicht noch einmal geschieht. Ich weiß, die Situation
ist schwierig, aber wir müssen versuchen, uns damit zu arrang …«
»Nein!« Der heftige Nachdruck in seiner Stimme bestürzte sie. »Wir werden niemals einen Campbell als unseren Laird akzeptieren. Es schmerzt mich, dass Ihr so etwas sagen könnt, Mädchen.«
Wie sollte sie ihm erklären, dass sie nur getan hatte, was sie unter diesen Umständen für das Beste gehalten hatte?
»Wenn du irgendetwas damit zu tun hattest, was geschehen …«
»Nicht jetzt, Mädchen. Es wird alles bald genug einen Sinn ergeben. Aber beeilt Euch, wir haben nicht viel Zeit. Folgt mir.«
Er versuchte, ihre Hand zu nehmen und sie zwischen die Bäume in Richtung der Berge zu ziehen, doch sie stemmte die Füße in den Boden und weigerte sich nachzugeben. »Wohin willst du mich bringen? Was soll diese ganze Geheimniskrämerei bedeuten?«
Seamus sah sich noch einmal um und senkte die Stimme. »Ich kann es jetzt nicht erklären, es ist zu gefährlich – jeden Augenblick könnte einer der Wachmänner des Campbell vorbeikommen – Ihr werdet mitkommen und es mit eigenen Augen sehen müssen. Aber vertraut mir, Mädchen, das ist etwas, das Ihr Euch nicht entgehen lassen wollt.«
Caitrina zögerte, denn ihr war nicht wohl dabei, Seamus in die Wildnis hinterherzustolpern. Nach allem, was geschehen war … rief sie etwas in ihr mahnend zur Vorsicht. Und dann war da noch Jamies Anweisung, dass sie in der Burg bleiben sollte. Nervös biss sie sich auf die Lippe. Sie hatte nicht großartig über den Zweck der Anweisung nachgedacht, sondern sich nur gegen die Anmaßung aufgelehnt. Was, wenn er dafür einen Grund hatte, der über sein allgemeines Beschützerverhalten hinausging? Ein Schauer durchlief sie. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Vielleicht morgen …«
Eine körperlose Stimme, die hinter einem der Bäume tiefer im Wald vor ihnen hervorkam, fiel ihr ins Wort. »Grundgütiger, Caitrina, musst du denn immer widersprechen? Habe ich dir nicht immer wieder gesagt, dass Männer fügsame Frauen bevorzugen?«
Die Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich elektrisiert auf, als der Schock jeden Knochen, jeden Muskel, jede Faser ihres Körpers erstarren ließ.
Sie fuhr sich mit der Hand an die Kehle und starrte mit wildem Blick in die Richtung, aus der die schmerzhaft vertraute Stimme kam. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Gütiger Gott, das konnte nicht sein! »Nein …«
Ein Mann trat hinter einem Baum hervor, und seine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt war nur eine Silhouette im schwachen Licht zwischen den Bäumen.
»Ich fürchte doch, kleine Schwester.«
Alles Blut wich ihr aus dem Körper. Niall .
Sie sah einen Geist. Es war zu viel, um es glauben zu können. Die heftige Welle der Gefühle in ihrer Brust war mehr, als sie ertragen konnte.
»Fang sie auf«, sagte er und tat einen Schritt vorwärts. »Ich glaube, sie wird …«
Doch Caitrina konnte den Rest nicht mehr hören,
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