Stolz und Verfuehrung
wieder aufschaute und Em freundlich anlächelte. »Es mag sehr wohl sein, dass Sie recht haben, meine Liebe, aber ...«
»Oh, bitte verzeihen Sie, Lady Fortemain. Ich glaube, ich werde dringend gebraucht.« Sanft löste Em ihren Arm aus dem Klammergriff der alten Dame, erhob sich mit einem charmanten Lächeln, knickste und ließ Lady Fortemain immer noch lächelnd zurück.
Sie täuschte sich nicht in der Annahme, dass jemand in dem Korridor vor ihrem Büro wartete. Dulcie, eines der Waschmädchen, eilte in dem Dämmerlicht auf und ab. Als sie Em kommen sah, hüpfte sie noch schneller. »Miss, kommen Sie schnell! Einer der Zwillinge, ich glaube, Bea, ist entwischt, und ihr Haar ist in die Mangel geraten. Wir haben nur eine Minute nicht aufgepasst, und als wir uns wieder umdrehten ...«
»Bestimmt hat sie versucht, sich das Haar zu glätten.« Em nickte kurz, eher erleichtert als besorgt; den Trick hatte Bea früher schon einmal versucht. »Ich komme gleich und werde sie erlösen.«
Der nächste ruhige Moment, in dem Em über die Ehe nachdenken konnte, kam erst, als sie sich allein zu einem späten Mittagessen hinsetzte. Issy und die Zwillinge - Bea war nach ihrer Befreiung noch reichlich mitgenommen - hatten sich nach oben zurückgezogen und setzten ihren Unterricht fort. Obwohl die Zwillinge immer noch murrten und stöhnten, berichtete Issy, dass sie im Rechnen, Lesen und Schreiben große Fortschritte gemacht hatten. Mit den damenhaften Fertigkeiten wie Klavierspielen und Zeichnen war es schwieriger, denn die Zwillinge befanden sich in einem Alter, in dem sie jungenhafte Spiele bevorzugten. Die üblichen Beschäftigungen einer Lady sagten ihnen überhaupt nicht zu.
Aber da sowohl Em als auch Issy ihnen das nachfühlen konnten, trieben sie diese Unterrichtseinheiten nicht unnötig voran. Überhaupt waren die Colytons eine eher abenteuerliche Sippe, die sich nicht wohlfühlte, wenn sie zu Hause hocken und grübeln musste.
Henry hielt sich bei Filing auf. Hilda und ihre Mädchen hatten die Küche aufgeräumt und gönnten sich eine Ruhepause, bevor es Zeit wurde, das Dinner vorzubereiten. Edgar putzte seinen Tresen und plauderte mit ein paar Stammgästen. Ausnahmsweise hatte sie ein wenig Zeit für sich selbst.
In aller Ruhe naschte Em von den Törtchen, die Hilda für sie zurückgestellt hatte, während sie darüber nachdachte, was sie über die Ehe erfahren hatte.
Em konnte Hildas Sicht sehr gut verstehen und musste anerkennen, dass Lady Fortemains Standpunkt ebenfalls klug war. Aber die Auffassung, die sie in ihrer Einbildung Phyllida zuschrieb - dass allein die Liebe zählte -, fand in ihrer Colyton-Seele den größten Widerhall.
Em hegte keinerlei Zweifel daran, dass ihre Vorfahren die ganze Welt für die Liebe hingegeben hätten. Und sie kannte sich selbst viel zu gut, um sich einzubilden, sie könne gegen dieses Erbe handeln, das tief in ihr Herz eingepflanzt war. Denn sie war durch und durch eine Colyton, wie alle in der Familie; und wenn die Liebe das Ziel war, nach dem ihre Familie üblicherweise strebte, dann würde sie diese nebulöse, aber doch ungeheuer mächtige Empfindung ebenfalls willkommen heißen müssen.
Em würde mehr über die Liebe lernen müssen. Genug, um sie erkennen zu können. Sie würde lernen müssen, die Liebe zu verstehen, zu nähren und zu schützen - und all den Rest, was auch immer dieser Rest war.
Weil sie eine Colyton war, würde ihre Antwort auf Jonas’ Ansinnen von der Liebe bestimmt werden. Davon, ob sie ihn liebte und er sie.
Aber - es gab immer ein »Aber« - bisher hatte er keine Ahnung, wer sie wirklich war. Sie konnte nicht von ihm erwarten, dass er eine Dame liebte - oder ihr seine Liebe erklärte -, deren Stellung und wahren Familiennamen er nicht kannte.
Mehr noch. Sie selbst konnte ihre Stellung zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich benennen. Denn sie war so gut wie mittellos; das schmale Budget, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, schmolz dahin für die Suche nach dem Colyton-Schatz.
Erst wenn Em den Schatz gefunden hatte, würde sie genau wissen, wo sie stand ...
Je heftiger dieser Gedanke in ihr rumorte - dass ihr Umgang mit Jonas durch die Vorspiegelung falscher Tatsachen geprägt war -, desto größer und drängender wurde das Bedürfnis, sich nun ernsthaft der Schatzsuche zu widmen.
Wenn der Schatz erst einmal gefunden war, sie und ihre Geschwister finanziell gesichert waren und ihren echten Stand und Namen wieder beanspruchen konnten, würde alles
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