Stone Girl
in Erinnerung zu rufen. Ihr Haar ist so fettig, denkt sie, dass sie es bestimmt an die drei Mal schamponieren muss. Aber dann fällt ihr ein, dass Janeys Friseur meinte, man solle sein Haar zwischen dem Waschen auch mal fettig werden lassen.
Sethie schwingt ihre Beine aus dem Bett und setzt ihre nackten Füße auf den Boden. Dieser Teil, denkt sie, ist ja noch einfach. Seit Janey weg ist, bin ich oft aus dem Bett aufgestanden. Um ins Badezimmer zu gehen, in die Küche, oder um die Fernbedienung zu suchen, wenn sie unters Bett gefallen ist. Doch umgezogen hat sie sich seit Silvester nicht mehr. Als sie sich das T-Shirt über den Kopf zieht, fröstelt sie. Nicht weil ihr kalt wäre, sondern weil sie nicht mehr an ihre eigene nackte Haut gewöhnt ist. Nach so vielen Tagen in denselben Kleidern ist es seltsam, nackt zu sein.
Unter der Dusche schlingt Sethie die Arme um sich, einen legt sie über ihren Bauch, den anderen auf ihren Rücken. Sie ist dünn genug, um ihren jeweils anderen Ellbogen greifen zu können. Sie presst ihre Finger auf ihren Bauch, ihre Haut. Sie kann das Fett dort kaum noch greifen. An der verkrusteten Stelle auf ihrer Hüfte hält sie inne. Sie zupft daran herum, bis die Verletzung wieder zu bluten anfängt, dann reibt sie Seife hinein, damit es richtig wehtut. Die Stelle beginnt an ihrem Hüftknochen und zieht sich bis zum Bauch hinauf. Sie beginnt zu vernarben.
Der Schnitt hätte keine Narbe hinterlassen, denkt Sethie, wenn sie ihn einfach in Ruhe gelassen hätte. Es war kein besonders tiefer Schnitt, obwohl sie das Messer ein wenig heftiger in ihr Fleisch gestoßen hat, als sie zu ihrem Bauch gewandert ist, zu der fettesten Stelle ihres Körpers. Doch als er anfing zu verheilen, konnte Sethie nicht aufhören, daran herumzufummeln und draufzudrücken. Dafür gibt es eine Redewendung, denkt sie: alte Wunden aufreißen. Das ist genau das, was sie getan hat. Sie hat sie nicht verheilen lassen, sondern sie stattdessen wieder zum Bluten gebracht. Doch irgendwie gefällt ihr die Gewissheit, eine Narbe zurückzubehalten, so wie sich manche Leute als Erinnerung an die wichtigen Momente ihres Lebens Tattoos stechen lassen.
Sie macht sich nicht die Mühe, ihr Haar zu föhnen, und sie legt auch kein Make-up auf. Sie sucht sich eine Jogginghose aus und zieht das Zugband auf Hüfthöhe fest, sodass es gegen ihre Verletzung scheuert, sie beim Gehen, Sitzen und Aufstehen wieder aufreißt. Ihre Mutter schlägt ihr ein gemütliches Restaurant vor, das ungefähr acht Blocks von ihnen entfernt liegt. Sethie fragt sich, wie viele Kalorien sie auf dem Hin- und Rückweg wohl verbrennen kann. Sie fragt sich, warum ihre Mutter ein so schönes Lokal aussucht, wenn Sethie doch so schäbig angezogen ist. Fest wickelt sie sich einen Schal um ihren Hals und setzt sich einen Hut auf ihr nasses Haar. Dass sie auf dem Weg zum Restaurant frieren wird, ist ihr egal; Zittern verbrennt schließlich auch Kalorien.
Ihre Mutter trägt einen schwarzen, maßgeschneiderten Mantel. Neben ihr kommt sich Sethie wie ein kleines Mädchen vor. Ihr eigener Mantel ist zu weit und sie weiß, dass sie ohne Make-up wahrscheinlich noch jünger aussieht, als sie es in Wirklichkeit ist. Die Portiers in der Park Avenue grüßen Rebecca mit einem Tippen an die Mütze, ein Mann mit Krawatte starrt sie unverhohlen an. Rebecca nimmt all die Aufmerksamkeit gelassen zur Kenntnis. Während sie weiterlaufen, schaut Sethie auf ihre Füße. Keiner der Männer hat sie auch nur eines Blickes gewürdigt. Nicht so, wie sie jetzt aussieht. Doch sie weiß noch, wie sie vor ein oder zwei Jahren plötzlich mehr männliche Aufmerksamkeit bekommen hat als ihre Mutter. Sie kann sich erinnern, dass sie triumphiert und sich gleichzeitig schuldig gefühlt hat.
Als sie sich hinsetzen, stellt der Ober einen großen Brotkorb vor sie hin. Ihre Mutter greift nach einem Stück Baguette und bestreicht es dick mit Butter. Sethie langt nach dem Zimt-Rosinen-Brot mit Walnüssen. Das war mal ihre Lieblingssorte. Früher hat sie nur wegen dieses Brots mit ihrer Mutter herkommen wollen. Vielleicht hat Rebecca deshalb dieses Lokal vorgeschlagen. Vielleicht hat sie sich daran erinnert, dass Sethie dieses Lokal am liebsten mochte. Heute würde sich Sethie auf keinen Fall ein Restaurant mit so einem Brot aussuchen, aber das kann Rebecca ja nicht wissen.
Doch Sethie kann ihre Hände nicht davon abhalten, das Brot auf ihren Teller zu laden, es in kleine Stücke zu reißen, das
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