Stone Girl
nicht zu nahe kommt«, fährt Ben fort und Sethie hört auf zu lachen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, Ben ihre Sorgen anzuvertrauen.
»Sethie?«, sagt Ben, als er merkt, wie still sie geworden ist.
»Ja?« Sie weiß, ihre Stimme klingt zaghaft. Sie glaubt, jemand, der so groß ist wie Ben, muss auch eine lautere Stimme haben.
»Ich glaube nicht, dass du so ein Mädchen bist. Ich glaube, du warst es nur für einen kurzen Moment oder für ein paar unbedeutende Monate. Aber das bist nicht wirklich du, das glaube ich einfach nicht.«
Leise fragt Sethie: »Was glaubst du denn, wer ich wirklich bin?« Doch eigentlich erwartet sie gar keine Antwort, eigentlich hätte er sie gar nicht hören sollen.
»Es ist nicht toll, so groß zu sein wie ich, und du bist das einzige Mädchen, das ich je kennengelernt habe, das das versteht. Du bist das einzige Mädchen, das ich je getroffen habe, das eine Seminararbeit über Ernest Hemingway schreiben will.«
Sethie mag das Mädchen, das Ben in ihr sieht. Sie mag die Person, zu der sie wird, wenn sie mit ihm telefoniert, die, die sie bei dem Abendessen mit ihm war und neben ihm auf der Couch. Sie ist frech und keck, sie flirtet und sie hat eine eigene Meinung. Sie ist kein Mädchen, das sich über Toiletten zusammenkrümmt und Kalorien zählt. Dieses Mädchen hier ist so viel lockerer als das andere. Dieses Mädchen hat Ben am Ende des Telefonats den Spitznamen »der Riese« verpasst und sich noch nicht einmal darüber Sorgen gemacht, ob er beleidigt sein könnte.
Ben erwidert: »Solange du mich nicht Elliott das Schmunzelmonster nennst …«
»Neee«, meint Sethie. »Du bist kein Drache. Du bist ein freundlicher Riese wie der aus Die Braut des Prinzen . Du siehst furchterregend aus, aber in Wirklichkeit bist du derjenige, der am Ende alle rettet.«
»Den Film hab ich nie gesehen.«
»Du machst wohl Witze! Das ist mein Lieblingsfilm! Ich habe quasi ein Loch in meine kopierte DVD gebrannt, weil ich ihn so oft angeschaut habe.«
»Und jetzt hast du mir gerade das Ende verraten.«
Sethie lacht. »Nein, keine Sorge, das habe ich nicht. Wir schauen ihn uns irgendwann an, dann wirst du’s schon sehen.«
»Okay, dann haben wir also ein Date. Nach den Ferien.«
»Gut«, entgegnet Sethie. »Nach den Ferien.«
»Und, Sethie?«
»Ja?«
»Ich weiß jetzt, was von den beiden Dingen das schlimmere war.«
»Ach ja, und wie lange hast du gebraucht, um das herauszufinden?«
»Ich wusste es schon, bevor du die Nummer zwei überhaupt erwähnt hast. Es war schlimmer, Janey wegzuschicken. Und das weißt du genauso gut wie ich.«
Sethie sagt nichts.
»Na gut, dann bis nach den Ferien!«
»Ja, bis nach den Ferien.«
»Pass auf dich auf, während ich weg bin.«
»Du auch. Also, ich meine, während du weg bist. Schau, dass dir nicht zu kalt wird.«
»Süße, das da oben ist meine einzige Chance, endlich ein bisschen abzukühlen.«
Sethie lächelt, wünscht ihm eine gute Nacht und ein frohes neues Jahr. Als sie die Auflege-Taste drückt, zieht sie den Stecker des Handys heraus, damit der Akku wieder leer wird. Jetzt, da Ben nach Vermont fährt, gibt es wirklich niemanden, mit dem sie noch sprechen möchte.
18
Zwei Tage nach Janeys Abreise fängt Sethie an, alle Fenster in ihrem Zimmer offen zu lassen. Eine Eiseskälte ist über New York City hereingebrochen. Sethie mag den Klang dieses Wortes. »Hereinbrechen« steht für etwas Kraftvolles, wie Wassermassen, die sich lange gesammelt und aufgestaut haben und mit einem Mal alles überfluten. Es ist eine Kälte, die plötzlich da ist, wie nach einem Fingerschnipsen, das deine Aufmerksamkeit fordert, dich bei dem, was du tust, unterbricht oder dich sonstwie auf die Spur bringt. Wenn Sethie ihr Wasser trinkt, füllt sie die Flasche mit Eiswürfeln. In den letzten paar Tagen – Tagen ohne Shaw – war ihr zu warm. Wenn ihr nur kalt genug wäre, glaubt Sethie, wäre es vielleicht ein bisschen so, als sei Shaw bei ihr.
Sie lädt ihr Handy wieder auf. Vielleicht hat er versucht, sie anzurufen. Immerhin hat er gesagt, sie seien noch Freunde. Seien es immer gewesen. Doch wenn das Telefon klingelt, ist es nie Shaw, und Sethie lässt die Mailbox rangehen. Jeder einzelne Anruf ist von Janey.
Hinterher hört Sethie immer gleich die Mailbox ab.
»Hi, Sethie, ich wollte dir nur frohe Weihnachten wünschen.«
»Hi, Sethie, ich vermisse dich. In Virginia ist es eiskalt. Dabei dachte ich, der Süden soll so warm sein!«
»Sethie, langsam
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