Stone Girl
Buttermesser zu greifen und die Butter auf das Brot zu streichen. Sie kann ihre Hände nicht davon abhalten, das Brot zu ihrem Mund zu führen, ihren Kiefer nicht daran hindern, es zu zerkauen, ihre Kehle, es hinunterzuschlucken, ihren Magen, es aufzunehmen.
»Schon okay«, denkt sie, »ich kann mich ja später wieder übergeben.« Sie schaut auf ihre Hände, ihren Bauch und sagt stumm: »Esst alles, was ihr wollt, Kinder.«
»Freust du dich, dass die Schule wieder losgeht?«, fragt ihre Mutter.
»Hm?« Beinahe hätte Sethie vergessen, dass Rebecca auch noch da ist, dass überhaupt noch etwas anderes existiert als ihr Brot.
»Freust du dich, dass morgen die Schule wieder losgeht?«, wiederholt Rebecca.
»Oh ja, sicher. Also, ich weiß nicht. Meine Noten sind ja jetzt nicht mehr wichtig.« Sethie schmiert sich ein weiteres Stück Brot, steckt es sich in den Mund und sucht in dem Korb nach Nachschub.
»Den Colleges liegt schon alles vor«, erklärt sie weiter.
»Verstehe.« Rebecca kaut auf ihrem Brotstück herum. »Ich bin sicher, du wirst dich freuen, deine Freunde wieder in der Stadt zu haben.«
Sethie zuckt die Achseln. Ich muss Rebecca erzählt haben, denkt sie, dass meine Freunde nicht in der Stadt sind, damit es ihr nicht merkwürdig vorkommt, wenn ich zwei ganze Wochen nicht aus dem Haus gehe. Sethie kann sich an das Gespräch nicht erinnern, aber es ergibt Sinn.
Als der Ober ihre Bestellung aufnimmt, verlangt Sethie ein Käseomelett. Sie versucht nicht mal zu sagen, dass es nur mit Eiweiß zubereitet werden soll, es ist ihr egal, da sie sich später sowieso übergeben wird. Ihre Mutter stellt ihr noch ein paar Fragen zum Schulbeginn, doch Sethie ist zu abgelenkt, um mehr als einsilbige Antworten zu geben. Sie denkt nur daran, dass sie rechtzeitig in ihre Wohnung zurückkommen muss, um sich zu übergeben. Nach dem Brunch schlägt Rebecca vor, eine gemeinsame Shoppingtour zu unternehmen, doch Sethie lehnt das Angebot ab. Also gehen sie in entgegengesetzte Richtungen auseinander, Rebecca macht sich auf den Weg zu Bloomingdale’s und Sethie auf den Weg nach Hause. Sie läuft langsam, strengt sich so wenig wie möglich an. Sie will nicht, dass ihr Körper zu viel von dem Essen verdaut.
Obwohl sie allein zu Hause ist, macht sie die Badezimmertür zu und dreht den Wasserhahn auf, damit man nichts hört. Sie kniet sich vor die Toilette und steckt sich die Finger in den Mund. Sie würgt, doch es kommt nichts hoch. Sie versucht es mit der anderen Hand, kitzelt ihren Gaumen, fährt zu ihrer Kehle hinunter, seift sich die Finger ein, sodass sie sich eigentlich allein von dem Geschmack übergeben müsste.
Solche Probleme hat sie nicht mehr gehabt, seit Janey ihr gezeigt hat, wie man das richtig macht, seit ihren vorangegangenen kläglichen, halbherzigen Versuchen. Mit gekreuzten Beinen lässt sie sich vor der Toilette nieder.
Schon gut, sagt sie sich, vielleicht muss ich mich einfach nur kurz entspannen. Sie holt tief Luft und versucht es erneut. Wieder würgt, hustet und spuckt sie, doch es kommt kein Essen hoch. Sie schließt die Augen und lehnt sich gegenüber der Kloschüssel an die Wand. Ihre Finger sind noch immer in ihrem Mund, an ihren Lippen, und mahnen sie, es noch einmal zu versuchen. Sie stellt sich vor, wie sich ihr Bauch um das Essen krampft, das sie zu sich genommen hat, es umschließt wie eine Faust. Wie sich ihre Eingeweide zusammenziehen, um alles bei sich zu behalten. Ihre Finger, ihr Hals und das drängende Bedürfnis, sich zu übergeben, kämpfen gegen ihren gierigen Bauch. Sethie hat das Gefühl, besiegt worden zu sein.
Also bleibt alles, wo es ist. Das Brot mit den Nüssen, die Butter, der Käse und das Eigelb. Ihr Körper gibt es einfach nicht mehr her.
20
Sethies Klassenkameradinnen kommen braungebrannt aus den Ferien wieder, die sie an exotischen Orten wie Buenos Aires, der Riviera Maya oder sonstwo in der Karibik verbracht haben. Sethie hingegen kehrt mit einer Narbe in die Schule zurück, die unter dem Bund des Rocks ihrer Schuluniform hervorblitzt. Sethie mag ihre Narbe, sie fühlt sich wie eine Abenteurerin, als hätte sie sich über die Ferien einen gefälschten Ausweis besorgt und sich mit dessen Hilfe ein Tattoo stechen lassen. Das ist sogar noch besser als Urlaubsbräune. Urlaubsbräune hält nicht lange vor.
Sie hat drei Kilo abgenommen, obwohl sie am Sonntag so viel gegessen hat. Zu Beginn der Weihnachtsferien hat sie 50 Kilo gewogen, jetzt liegt sie bei knapp unter 47.
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