Stone Girl
schneiden, um Erdnussbutter ganz dünn auf einen Weizentoast zu streichen oder um einen Apfel zu schälen.
Als sie noch klein war, hat Sethie sich immer vorgestellt, wie es wohl wäre, nicht jüdisch zu sein. Ein Haus zu haben, das an Weihnachten voller Licht und Geschenke ist. Mit einem Baum, einem Feuer, einem Weihnachtsessen und einem großen Frühstück am ersten Weihnachtsfeiertag. Mit einer Küche, die während der gesamten Weihnachtsferien mit Resten angefüllt wäre. Jetzt ist sie dankbar, Jüdin zu sein. In der Küche gibt es keine Reste, die sie in Versuchung bringen könnten. Nur ein bisschen alten Käse, trockene Pasta, gefrorene Hühnerbrust und Cola light. Und Tafelmesser.
Sethies Mutter ist in ihrem Zimmer. Sie hat heute Abend was vor und macht sich schon fertig. Ein Freund von ihr hat zu einem großen Abendessen eingeladen. Sie hat Sethie gefragt, ob sie mitkommen wolle, doch Sethie hat nur gelacht. Allein zu Hause zu bleiben war immer noch besser, als mit ihrer Mutter auf eine Party zu gehen.
Eines der Messer nimmt sie in ihr Zimmer mit und schiebt es zwischen den Bettunterbau und die Matratze. Sie hat keine Ahnung, warum sie das Gefühl hat, es gut verstecken zu müssen. Ihre Mutter wird nur kurz den Kopf zur Tür reinstecken, bevor sie geht. Einfach unter die Bettdecke oder in den Schrank hätte es auch getan.
Sethie wartet, bis Rebecca weg ist, zieht dann alle ihre Kleider aus und legt sich auf den Parkettfußboden. Sie wiederholt das alte Ritual, bei dem sie ihren Körper mit einem Handspiegel von oben bis unten abscannt, doch nimmt sie dieses Mal statt des Spiegels ein Messer. Sie setzt sich auf, um mit dem Messer über ihre Beine zu fahren. Sie führt es so dicht über ihre Haut, dass sie spüren kann, wie das kalte Metall die feinen Härchen auf ihren Beinen berührt, die sie seit Tagen nicht rasiert hat, da sie ja auch seit Tagen nicht mehr gebadet hat.
Ihn auszuschwitzen hat nicht funktioniert. Sie vermisst Shaw noch immer. Sich zu übergeben hat auch nicht funktioniert. Sie fühlt sich noch immer fett. Wie es aussieht, ist das Einzige, was ihr übrig bleibt, das Fett wegzuschneiden und die Hautschichten, die Shaw berührt hat, abzukratzen, jene Hautschichten, die sie an das Gefühl seiner Berührung erinnern. Sie wird sich vom Fett befreien, sich von Shaw reinwaschen.
Sethies Schulterblätter drücken sich in den Boden. Die Klinge findet den Weg zu ihrem Hüftknochen, Sethies Lieblingskörperteil, der Teil, wo ihr Knochen hervorsteht, der dünnste Teil ihres Körpers. Sie ritzt sich einen leichten Kratzer in die Haut, gerade fest genug, um die Haut weiß werden zu lassen. Dann drückt sie ein wenig fester zu, und ihre Haut wird langsam rot. Sie fühlt sich wie ein Wesen aus einem Märchen. Wie ein Mädchen, das gerade entdeckt, dass ihre Knochen in Wirklichkeit aus Stein sind, ihre Haut dünn wie Glas, ihr Haar spröde wie Stroh, dass ihre Tränen versiegt sind, dass sie nur Salz weint. Vielleicht tut es deshalb nicht weh, als sie so fest drückt, bis Blut zu fließen beginnt. Es tut nicht weh, weil sie gar nicht mehr wirklich ist.
19
Die Schule beginnt an einem Montag, fast eine Woche nach Silvester. Am Sonntag klopft Rebecca an Sethies Tür. Sethie liegt im Bett, und ihre Mutter wartet nicht auf eine Antwort, bevor sie den Kopf durch die Tür steckt. Sethie blickt auf Rebeccas nackte Füße. Sie denkt an ihre Biologielehrerin aus der achten Klasse, die einmal eine Barbie in den Unterricht mitbrachte. Es sei vollkommen unmöglich, meinte sie, dass so kleine Füße einen Körper von der Größe einer Barbie tragen könnten. Sogar da hatte Sethie schon gedacht: Offensichtlich haben Sie meine Mutter noch nicht kennengelernt.
»Wie wär’s mit einem Brunch?«, fragt Rebecca.
»Ich bin noch nicht mal richtig wach, Mom«, erwidert Sethie.
»Ich warte auf dich«, sagt Rebecca und Sethie dreht sich auf die Seite, weg von ihr, zur Wand.
»Von mir aus, aber da kannst du lange warten. Ich verderbe mir doch nicht den letzten Ferientag damit, dass ich früh aufstehe.«
Sie wirkt wie ein ganz normaler, mürrischer Teenager, so als ginge es ihr wirklich darum, an ihrem letzten Tag vor Schulbeginn auszuschlafen und den ganzen Tag im Bett zu bleiben. Doch in Wahrheit hat Sethie das Haus seit fast zwei Wochen nicht verlassen und kann die einzelnen Schritte – aufstehen, sich fertig machen, anziehen – schon gar nicht mehr abrufen. Sie möchte sich etwas Zeit geben, um sich das alles wieder
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