Stone Girl
mache ich mir Sorgen. Ruf mich doch bitte bei Doug zu Hause zurück, sag mir einfach nur, dass du okay bist. Und solltest du nicht mit mir reden wollen, dann hinterlasse mir daheim eine Nachricht, die bekomme ich dann, wenn ich meinen Anrufbeantworter abhöre. Bitte, Sethie, ich vermisse dich.«
Sethie löscht die neuen Nachrichten. Sie hat alles mitbekommen, was Janey gesagt hat, aber sie will es nicht hören. Auf ihrer Mailbox sind noch einige Nachrichten von Shaw gespeichert. Sie spielt sie ein paarmal ab, und dabei kommt es ihr vor, als würde sie seine brummige Stimme mit dem Bauch hören und nicht mit den Ohren.
Fünf Tage nach Janeys Abreise hat Sethie die Kälte und die Warterei auf Shaw satt. Sie schließt die Fenster und dreht die Heizung so weit auf, dass sie sich die Hand daran verbrennt. Es sollte heiß sein, denkt Sethie. Ich sollte nicht versuchen, Shaw hier irgendwo zu erspüren, seine Berührungen nachzuahmen und die Erinnerung an seine Küsse heraufzubeschwören, indem ich Eiswürfel nuckle. Ich sollte ihn nicht durch die offenen Fenster hereinholen, ich sollte ihn hinter verschlossenen Türen aussperren. Sie wird ihn rausschwitzen. Genau das wird sie tun. Schicht um Schicht zieht sie Jogginghosen und Sweatshirts übereinander, ja sie trägt sogar Mütze und Schal. Shaw, so sagt sie sich, steckt in dem Schweiß, der aus ihrem Körper austritt. Und je mehr sie schwitzt, desto mehr Gewicht verliert sie – ein zusätzlicher Bonus.
Sethie lässt ihren Akku wieder leer werden. Selbst wenn Shaw sie anruft, kommt sie nun gar nicht erst in die Versuchung, mit ihm zu sprechen. Es ist schon schlimm genug, denkt sie, dass mich mein ganzes überschüssiges Fleisch so dick aussehen lässt, aber jetzt ist es auch noch überschüssiges Fleisch, das Shaw berührt hat, das sich nach ihm sehnt. Auch wenn Sethie sie nur kurz gesehen hat, ist sie sicher, Shaws neue Freundin ist dünn und flach, und in einer gebeugten Sitzhaltung formt ihr Bauch ein wunderschönes C. Sethie korrigiert sich: Anna ist nicht seine »neue« Freundin. Sie könnte nur neu sein, wenn sie Shaws alte Freundin gewesen wäre, und das war sie ja nie. Oder er nie ihr Freund. Sie weiß nicht mehr, welche Variante sie eigentlich so durcheinandergebracht hat. Es ist verwirrend, das Gefühl zu haben, er habe mit ihr Schluss gemacht, wo doch allen anderen sonnenklar ist, dass sie und Shaw nie ein Paar gewesen sind.
Sethie kann nicht glauben, wie allein sie ist. Noch vor einem Monat hat sie sich ausgemalt, wie sie Weihnachten mit Shaw oder wenigstens Janey verbringen würde. Jetzt befindet sich jeder von ihnen bei seiner besseren Hälfte. Sethie kaut auf dem Wort »besser« herum wie auf einem Kaugummi.
Sie beschließt, ihren Schreibtisch auszuräumen. Sie leert jede ihrer fünf Schubladen und verteilt ihren Inhalt auf dem Boden um sich herum. Sie findet nicht, dass man irgendetwas davon wegschmeißen sollte, also ordnet sie alles zu kleinen Häufchen an und findet für jeden Haufen einen Platz in den Schubladen. Sie stellt sich vor, wie Shaw auf ihrem Bett sitzt, während sie sauber macht. Er würde über ihre Unfähigkeit, irgendetwas wegzuschmeißen, lachen. Er würde ihr raten, sich vor dem Aufräumen zu bekiffen. Sethie klettert ins Bett. Sie schläft so viel sie kann. Sie macht sich nicht die Mühe, sich anzuziehen. Sie lässt ihren Pyjama an, so kann sie jederzeit in ihr Bett und versuchen zu schlafen. Im Schlaf ist es nicht möglich zu essen. Und wenn sie schläft, hat sie keinen Hunger.
Acht Tage nach Janeys Abreise geht Sethie in die Küche. Es ist Silvester, Mittagszeit, und Sethie hat keine Ausgehpläne für den Abend. Sie hat beschlossen, etwas von dem Valium von Janeys Mutter zu nehmen und sich früh schlafen zu legen. Sethie hat das Haus nicht verlassen, seit sie ihre letzte Abschlussprüfung abgelegt hat, am Tag vor Heiligabend, am Tag bevor Janey nach Virginia gefahren ist, Shaw nach Florida und Ben nach Vermont. An dem Tag, bevor alle sie hier allein gelassen haben, sodass ihr nichts anderes übrig bleibt, als in die Küche zu gehen und mit dem Finger über die Messer ihrer Mutter zu fahren.
Es ist nicht so, als hielte sie nach einem scharfen Gegenstand Ausschau. Ein stumpfes Messer würde völlig genügen. Ein Tafelmesser. Das ist schärfer als ein Buttermesser, aber nicht so scharf wie ein Steakmesser. Es ist ihr am vertrautesten. Genau das benutzt sie, um ihr ausschließlich weißes Fleisch, Huhn zum Beispiel, in Stücke zu
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