Stone Girl
werden erst recht nicht von einer ihnen bekannten Person vergewaltigt.
Kurz vor dem Mittagessen kommt eine Ernährungsberaterin in die Klasse der Seniors. Sie ist klein, vielleicht einen Meter fünfundfünfzig, und die Schulterpolster in ihrem Anzug lassen sie noch zierlicher erscheinen. Sethie entlarvt die Schulterpolster als das, was sie wirklich sind: ein veralteter, aus der Mode gekommener Trick, um dünner zu wirken. Sofort hasst sie die Ernährungsberaterin für ihre Scheinheiligkeit: Mädchen, macht euch keine Sorgen um euren Körper, ihr seid schön, wie ihr seid – aber natürlich ist es okay, wenn ich mir über mein Aussehen den Kopf zerbreche. Im Endeffekt, denkt Sethie, hat diese Ernährungsberaterin vor allem ihre eigene Karriere im Kopf, denn genau diese Ernährungsberaterin, die da heute für sie engagiert wurde, ist eine Mediengröße, die regelmäßig in der Sendung Today auftritt. Und schließlich weiß jeder, wie wichtig das Aussehen im Showbusiness ist.
Die Ernährungsberaterin steht vor der Klasse und stellt ihre erste Frage: »Wie viele von euch Mädchen haben je gesagt: ›Ich fühle mich fett‹?«
Jedes einzelne Mädchen hebt die Hand.
»Und wer von euch glaubt, dass Fett ein Gefühl ist?«
Kein Mädchen, kein einziges, hebt die Hand. Schließlich sind sie schlaue Mädchen, gute Schülerinnen, die wissen, was von ihnen erwartet wird. Doch Sethie ist sich sicher, dass die meisten von ihnen, oder zumindest viele, absolut fähig wären, angeregt darüber zu debattieren, weshalb Fettsein definitiv ein Gefühl ist. Sethie wirft einem Mädchen namens Alice am anderen Ende des Raums einen Blick zu. Alice ist die Magersüchtige der Klasse. Klar, viele Mädchen hier haben schon mit dieser Krankheit wie auch mit Bulimie gespielt, aber Alice ist die Einzige, denkt Sethie, die diesen Titel wirklich verdient. Über den Sommer hat man sie sogar in irgendeine Rehaklinik geschickt. Sie musste drei Wochen lang dort bleiben, das wissen alle. Sethie denkt, dass man vielleicht gar nicht richtig magersüchtig ist, bevor man keine Behandlung in einer Klinik in Anspruch genommen hat. Alice trägt ein Tanktop, obwohl es Dezember ist und draußen gerade mal null Grad herrschen. Sethie weiß, Alice ist stolz darauf, dass sie so dünn ist. In jedem Kurs, den sie zusammen haben, starrt Sethie sie immerzu an.
Sethie beschließt, zuerst auf die Toilette und dann zur Krankenstation zu gehen. Sie will der Ernährungsberaterin nicht länger zuhören. Letztes Jahr hat sie genau dasselbe erzählt. Sogar die Eröffnungsfrage ist dieselbe. Im Gang stößt Sethie mit Alice zusammen.
»Du musstest da auch raus, was?«, fragt Alice.
»Ich ertrage diese Frau nicht«, erwidert Sethie, während sie zur Krankenstation laufen.
»Ich auch nicht. Sie käut einfach nur jede einzelne Zeile aus ihrem Buch wieder.«
»Du hast ihr Buch gelesen?«, fragt Sethie.
»Machst du Witze? Kaum war es erschienen, haben es mir meine Eltern auch schon aufs Auge gedrückt. Pflichtlektüre, du verstehst.«
Sethie nickt. Es bedarf keiner weiteren Erklärung, weshalb Alices Eltern ihr diese schwere Bücherkost aufzwingen. Wahrscheinlich war es das einzige Mal, dass sie ihr überhaupt irgendeine Kost aufzwingen konnten. Sethie ist zu eingeschüchtert von Alice, um noch etwas hinzuzufügen.
Als sie vor der Krankenstation angekommen sind, zieht Alice eine Zigarette aus ihrer Jeanstasche.
»Ich geh mal eben raus«, sagt sie. »Du auch?«
Alice kommt mit ziemlich vielen verbotenen Dingen davon, sogar damit, sich im Schulflur eine Zigarette anzuzünden. Und wenn sie mal erwischt wird, macht sie einfach ihre Krankheit dafür verantwortlich und den ganzen Stress, dem sie ausgesetzt ist. Prompt bekommen die Lehrer ein schlechtes Gewissen.
Sethie schüttelt den Kopf. »Nein danke. Ich werde einfach ein bisschen hier rumhängen.« Sethie will sich gerade umdrehen, als sie mit voller Wucht gegen etwas stößt: Alices Ellbogen.
»Entschuldigung«, sagt Sethie. Alice hat ihre Zigarette fallen lassen und beide, Sethie und sie, bücken sich, um sie wieder aufzuheben. Oder zumindest hat Sethie vor, Alice zu helfen und die Zigarette für sie aufzuheben, doch stattdessen schaut sie einfach nur zu, wie Alice ihre rechte Hand danach ausstreckt. Es scheint ihr unmöglich, dass Alices Finger es tatsächlich schaffen sollen, sich um die Zigarette zu legen. Sie haben eine seltsam bläulich weiße Farbe und es sieht nicht so aus, als könnten sie sich krümmen oder
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