Stone Girl
Mädchen sowieso kaum Freundschaften schlossen.
Sethie weiß noch, wie sie Shaw damals bei den Bällen der Mittelstufe gesehen hat, bei diesen völlig altmodischen Zeremonien, wo kein Junge je mit einem Mädchen tanzte, ja wo genaugenommen gar niemand tanzte. Denn wer, der einigermaßen cool war, würde schon auf einem Schulball abtanzen? Sie erinnert sich, wie sie damals dachte, dass er ein komisch aussehender Junge geworden war, mit den Haaren, die sich eine Spur zu dunkel gegen seine helle Haut abhoben, und mit dem vielen Babyspeck im Gesicht. In gewissem Sinne sah er aus, als habe er gar kein Kinn. Außerdem war er nicht besonders groß und hatte etwas Akne auf den Wangen.
Doch irgendwann zwischen der zehnten und elften Klasse war Shaw acht Zentimeter gewachsen. Sommersprossen hatten sich über seinen ganzen Körper verteilt und seiner blassen Haut etwas Farbe und eine interessante Note verliehen. Die Linien seines Kiefers wurden markanter und sein Kinn quadratisch und hervorspringend wie das von Clark Kent in den alten Superman -Comics. Seine Stimme änderte sich, wurde tief und rau, als hätte er sich über den Sommer angewöhnt, auf Felsbrocken herumzukauen. Doch Sethie hätte nicht ausmachen können, was genau nun eigentlich so neu war an Shaw. Sie wollte ihn, das war das Einzige, was sie wusste, mehr konnte sie nicht sagen. Sie hätte seine guten Eigenschaften nicht aufzählen können, obwohl sie wusste, dass er jede Menge davon besaß, und sie hätte auch nicht sagen können, welche Gemeinsamkeiten sie hatten, auch wenn sie wusste, dass es viele waren. Ja vielleicht konnte sie sich manchmal nicht mal an die Farbe seiner Augen erinnern, doch sie wusste, es waren die schönsten Augen, die sie je gesehen hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie es sein würde, aber es war klar, dass Shaw ihr noch vor Ende des Junior-Jahrs einen Kuss geben musste. Auf Partys sah sie zu, wie er andere Mädchen küsste, und anstatt eifersüchtig zu sein, passte sie genau auf. Sie beobachtete, wie die anderen Mädchen sich vor dem Kuss verhielten, und versuchte herauszufinden, was ihm an ihnen gefiel. Und endlich, eines Nachts, strich er ihr über die Arme, sodass es kitzelte.
Er machte so lange weiter, bis sie begriff, dass sich das Gefühl erst einstellte, wenn das Kitzeln abklang. Sie war dankbar gewesen, dass er nicht aufgehört hatte, sie wusste, dass sie beinahe falsche Signale ausgesandt hätte: Ich mag dich eigentlich gar nicht. Deine Berührungen kitzeln anstatt zu prickeln.
Die Erinnerung hat Sethie sogar von den Nüssen abgelenkt. Shaw und Jane essen jetzt schon beide davon, und Sethie hatte noch keine einzige.
Jane, so glaubt Sethie, ist wahrscheinlich kein Mädchen, das darauf wartet, bis ein Junge sie küsst, schon gar nicht der Junge, der sie die letzten fünf Monate geküsst hat. Aber Jane kennt Shaws Küsse nicht. Shaws Küsse sind es wert, dass man auf sie wartet. Und das weiß Jane eben nicht. Sethie ist stolz darauf, dass Shaw sie ausgewählt hat. Eigentlich hat nichts sonst sie je so stolz gemacht. Nicht ihre glatten Einsen, nicht die 2270 erzielten Punkte beim Eignungstest, ja nicht einmal der Tag, an dem sie auf der Waage weniger als 50 Kilo gewogen hat. All diese Dinge sind wichtig, das weiß sie. Sie hat hart dafür gearbeitet, hat sie sich lange schon gewünscht. Und natürlich ist Shaw nicht wichtiger, auch das ist ihr klar. Aber um Shaw zu bekommen, hat sie noch härter arbeiten müssen – Shaw, den Jungen mit den wunderbar kalten Händen, der tiefen Stimme und den Augenbrauen, die in der Sonne blond werden.
»Elsa hat uns ein Thanksgiving-Essen gemacht«, sagt Jane.
»Was?«, fragt Sethie entgeistert.
»Meine Haushälterin, Elsa, hat ein Thanksgiving-Gericht für mich vorbereitet: einen Truthahn, Füllung und Kartoffelbrei. Shaw, weißt du, wie man einen Truthahn tranchiert?«
Shaw zuckt mit den Achseln. »Ich hab’s noch nie probiert.«
»Hier.« Jane greift in eine Schublade und zieht ein Messer hervor. »Versuch’s. Der Truthahn ist im Ofen.«
»Aber warum hat Elsa denn ein Thanksgiving-Essen gemacht?«, fragt Sethie. Sie und Jane beobachten, wie Shaw den Truthahn auf dem Ceranfeld abstellt und das Messer über ihn hält, um abzuwägen, wo er am besten anfangen soll.
»Das ist mein Lieblingsessen. Elsa tut es immer leid, wenn meine Eltern so lange weg sind.«
Sethie fragt sich, wie lange »so lange« wohl sein mag. »Wie lange sind sie denn schon weg?«
»Bis jetzt erst eine Woche. Aber
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