Stoner: Roman (German Edition)
hoffte, er möge niemals enden. An die Vergangenheit oder Zukunft, an deren Enttäuschungen und Freuden dachte er nur selten, da er all seine Energie auf jenen Teil seiner Arbeit konzentrierte, den er im Augenblick gerade leisten konnte, und hoffte, sich nun endgültig allein über sein Tun zu definieren.
Während dieser Jahre wurde er nur selten von seiner Hingabe an die Arbeit abgelenkt. Wenn seine Tochter nach Columbia zu Besuch kam, als wanderte sie ziellos von einem Zimmer zum anderen, empfand er manchmal ein Gefühl von Verlust, das er kaum zu ertragen vermochte. Mit fünfundzwanzig sah sie zehn Jahre älter aus und trank mit dem tiefsitzenden Selbstzweifel eines Menschen, der bar aller Hoffnung ist; außerdem wurde deutlich, dass sie ihr Kind mehr und mehr den Großeltern in St. Louis überließ.
Nur einmal hörte er etwas über Katherine Driscoll. Zu Beginn des Frühjahrs 1949 erhielt er vom Verlag einer großen Universität an der Ostküste ein Rundschreiben, das die Publikation von Katherines Buch mitteilte und einige Informationen über die Autorin gab. Sie lehrte an einem angesehenen College für Geisteswissenschaften in Massachusetts und war unverheiratet. So rasch wie nur möglich besorgte er sich ein Exemplar. Als er es in Händen hielt, schienen seine Finger ein Eigenleben zu entwickeln und begannen so heftig zu zittern, dass er das Buch kaum aufschlagen konnte. Er blätterte die ersten Seiten um und las die Widmung: »Für W. S.«
Sein Blick verschwamm, und einen Moment lang saß er da, ohne sich zu rühren. Dann schüttelte er den Kopf, widmetesich wieder dem Buch und legte es erst wieder hin, als er es zu Ende gelesen hatte.
Es war so gut, wie er es vermutet hatte, ein anmutiger Stil, die Leidenschaft getragen von einem kühlen Ton und klaren Einsichten. Er begriff, dass es Katherine selbst war, die er in dem erkannte, was er las, und es erstaunte ihn, wie deutlich er sie sogar jetzt noch sah. Plötzlich war ihm, als sei sie nebenan und er habe sie gerade erst verlassen; die Hände kribbelten, als hätten sie Katherine noch eben berührt. Da brach sich das so lang aufgestaute Verlustgefühl Bahn, überflutete ihn, und er ließ sich mitreißen, verlor alle Beherrschung. Er wollte nicht gerettet werden. Dann lächelte er liebevoll wie über eine Erinnerung, und ihm kam der Gedanke, dass er auf die sechzig zuging, weshalb er eigentlich über solche Leidenschaften erhaben sein sollte, über eine solche Liebe.
Doch er wusste, er war es nicht und würde es nie sein. Jenseits von Taubheit, Verlust und Gleichgültigkeit gab es sie, diese Leidenschaft, stark und ungeschmälert, und sie war immer da gewesen. In seiner Jugend hatte er sie verschwenderisch und gedankenlos weitergegeben, hatte sie dem Wissen zugewandt, das ihm – vor wie vielen Jahren nun? – von Archer Sloane offenbart worden war; er hatte sie Edith gegeben in jenen ersten närrischen Tagen seiner Verliebtheit und Ehe, und er hatte sie Katherine geschenkt, als wäre sie nie zuvor gegeben worden. Auf die eine oder andere Weise hatte er sie jedem Augenblick seines Lebens gegeben und sie vielleicht am reichlichsten gegeben, wenn ihm dies gar nicht bewusst gewesen war. Diese Leidenschaft war weder eine des Verstandes noch des Fleisches, sondern vielmehr eine Kraft, die beides umschloss, als wären sie zusammen nichts anderes als der Stoff, aus dem die Liebe ist,ihre ganz spezifische Substanz. Angesichts einer Frau, eines Gedichts sagte sie einfach: Sieh her! Ich lebe.
Er hielt sich selbst nicht für alt. Wenn er morgens beim Rasieren manchmal sein Bild im Spiegel sah, fühlte er sich uneins mit dem Gesicht, das seinen Blick überrascht aus klaren Augen in grotesker Maske erwiderte; es war, als trüge er aus schleierhaftem Grund eine ungeheuerliche Larve, als könnte er, wenn er nur wollte, die buschigen weißen Brauen abstreifen, das zerzauste weiße Haar, die um spitze Knochen zusammengesunkene Haut und die tiefen Falten, die Alter vorgaukelten.
Doch wusste er, dass ihm sein Alter nicht vorgegaukelt wurde. Er sah, wie krank die Welt und sein Land in den Jahren nach dem großen Krieg waren; er sah, wie Hass und Misstrauen zu einer Art Irrsinn wurden, der wie eine Pest über das Land hinwegfegte; er sah junge Männer erneut in den Krieg ziehen, sah sie wie im Nachklang eines Albtraums begierig sinnlosem Untergang entgegenmarschieren. Und er empfand Mitleid und Trauer, die so alt waren, so sehr Teil seiner Zeit, dass er selbst davon schon
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