Stop Me - Blutige Botschaft (German Edition)
Stimme zu senken, doch im Moment hätte sie schreien können und Dustin hätte keinen Ton verstanden. Der einzige richtige Schlaf, den er zurzeit noch bekam, war direkt nach seiner morgendlichen Spritze, und die hatte sie ihm vor fünfzehn Minuten gegeben. Mindestens zwei Stunden lang würden sie nichts mehr von ihm hören. Es war die einzige Ruhepause, die ihm geblieben war, und es war auch die einzige Zeit, in der Beverly Atem schöpfen konnte.
“Ich bin nicht sicher, ob er sich überhaupt daran erinnern würde”, sagte sie. “Kommt darauf an, wie stark er unter Medikamenteneinfluss stand.”
“Gestern Abend war er ziemlich klar.” Wahrscheinlich zu klar. Sie wusste, dass Phillip es hasste, mit seinem Bruder allein zu sein, wenn die Wirkung der Schmerzmittel nachließ. Er konnte nicht damit umgehen, wenn Dustin ihn anflehte. Vielleicht war er deswegen fortgegangen. Vielleicht war Dustin zu anstrengend geworden.
“Wir müssen es Peccavi trotzdem erzählen”, sagte sie.
“Warum? Es gibt keinen Grund, ihn zu beunruhigen. Er hat genug um die Ohren. Es war einfach nur Vandalismus”, sagte er. “Du kennst doch die Kids aus der Nachbarschaft. Wir sind Boo Radley für sie.”
“Wer?”
“Boo Radley. Aus ‘Wer die Nachtigall stört’.”
“Ist das ein Buch?”
“Ja, das ist ein Buch. Jeder kennt ‘Wer die Nachtigall stört’. Sag nicht, du hast es nie gelesen!”
Sie hasste es, wenn er ihr das Gefühl gab, dumm zu sein. “Du und deine Bücher! Ich habe keine Zeit zum Lesen, das weißt du ganz genau.”
“Ich wollte damit doch nur sagen, dass die Nachbarskinder sich gegenseitig anstacheln. Seit die Polizei hier war, weiß jeder, dass in unserem Keller eine Leiche begraben war. Wir sind zum Horrorhaus hier in der Gegend geworden.” Er lachte, als würde ihm die Vorstellung beinahe gefallen, aber Beverly wusste, dass er genau das Gegenteil empfand. Und plötzlich fiel ihr ein, dass sie “Wer die Nachtigall stört” doch gelesen hatte, in der achten Klasse. Sie konnte sich nicht mehr an viel erinnern, aber sie wusste noch, dass es eine Sünde war, eine Nachtigall zu töten, weil eine Nachtigall niemals jemandem etwas zuleide tat.
Ein Anflug von Mitleid für ihren mittleren Sohn besänftigte Beverly. Er war nicht krank wie Dustin. Oder verdreht wie Francis. Aber wenn er hier bei ihr blieb, hatte er genauso wenig Aussicht glücklich zu werden wie seine Brüder. “Komm her”, sagte sie.
Verwirrung spiegelte sich auf seinem Gesicht, als sie in die Schublade griff und das Geld herausnahm. Vor einer Woche hatte sie ihren Lohn bekommen. Sie brauchte alles für Dustins Pflege, und für Phillip blieb nie etwas übrig. Das hier hatte er sich verdient.
Sie ergriff seine Hand und legte das Geld hinein.
“Was soll das?” Verständnislos blätterte er das Bündel mit dem Daumen durch.
“Nimm das Geld und alles, was Peccavi dir für deine eigene Arbeit gegeben hat, und verschwinde. Ich weiß, dass es nicht viel ist, aber geh woanders hin, such dir einen Job, schaff dir ein eigenes Leben. Und sieh nicht zurück.”
Die Farbe wich aus seinem Gesicht. So sehr er sich auch danach gesehnt hatte, frei zu sein, er war doch wie ein Tier, das zu lange eingesperrt gewesen war. Jetzt, wo die Käfigtür offen stand, wollte er nicht fort. “Aber ich kann dich nicht verlassen! Was ist mit Dustin? Wie wollt ihr beiden ohne mich zurechtkommen?”
Sie hatte keine Ahnung, aber diese Sache war ihr plötzlich ungeheuer wichtig. Wichtiger als alles andere. Phillip war alles, was sie noch hatte. Sie musste sich abends hinlegen und glauben können, dass er glücklich war. “Ich werde es schon schaffen. Komm nur nicht zurück. Peccavi mag es nicht, wenn jemand aussteigt. Er würde dich umbringen, wenn er dich findet.”
“Mom …”
Sie stand auf, nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. “Ich hätte mich nicht so sehr auf dich stützen sollen, Phil. Du bist ein guter Mann, so gut wie Dusty, aber mit einem gesunden Körper.”
Seine Augen füllten sich mit Tränen. “Ich glaube, ich könnte mir nicht mehr ins Gesicht blicken, wenn ich das täte.”
“Du kannst, wenn du es für mich tust”, sagte sie energisch. “Damit es wenigstens einen Moreau gibt, der hier rauskommt.”
Er blinzelte mehrmals. “Aber …”
“Es ist Zeit, Phillip.” Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, als wäre er noch ihr kleiner Junge. Das hatte sie seit langer Zeit nicht mehr getan. “Es ist höchste Zeit.”
Langsam
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