Stout, Maria
wissenschaftliche Theorien sich mit der Vorstellung
auseinandergesetzt, dass alle Lebewesen - einschließlich des Menschen - sich
nach dem Gesetz der natürlichen Auslese entwickelt haben könnten. Nach diesem
Gesetz, das auch volkstümlich als das "Gesetz des Dschungels" bekannt
ist, werden Eigenschaften, die das Überleben und die Fortpflanzung - und somit
das Fortbestehen - der jeweils eigenen genetischen Komponenten begünstigen, die
Tendenz haben, in der jeweiligen Population erhalten zu bleiben. Wenn ein
körperliches Merkmal oder ein bestimmtes Verhalten den Individuen unzähliger
Generationen in vielen Lebenslagen und Lebensräumen solchermaßen einen
glücklichen Überlebensvorteil verschafft, dann kann es in kleinen Schritten
und im Laufe undenklicher Zeiträume zum Bestandteil des allgemeinen genetischen
Bauplans der jeweiligen Art werden.
Das Gesetz
der natürlichen Auslese hat dazu geführt, dass Tiger Krallen haben, Chamäleons
ihre Farben wechseln, Ratten offene Räume meiden, Opossums sich tot stellen und
Affen große Gehirne haben, weil Tiger mit Krallen, getarnte Eidechsen,
unauffällige Nagetiere, simulierende Beutelratten und schlaue Primaten
tendenziell länger überleben und mehr Nachkommen zeugen können als ihre
Artgenossen. Diese Nachkommen wiederum können besser als ihre weniger
glücklichen Spielkameraden, die nicht durch ihre Gene mit natürlichen Waffen,
Tarnungstechniken, überlebensfördernder Ängstlichkeit, schauspielerischen
Fähigkeiten oder überlegener Intelligenz ausgestattet sind, überleben und sich
fortpflanzen.
Aber nach
diesem völlig amoralischen Gesetz des Dschungels - welchen möglichen Nutzen
könnten die Einschränkungen und Interventionen eines mächtigen Moralempfindens
für die Individuen einer räuberischen Art - denn der Mensch ist aus technischer
Sicht ein Raubtier - haben? Man stelle sich zum Beispiel einen großen weißen
Hai mit einem anspruchsvollen Gewissen vor. Wie lange würde er überleben? Was
könnten also womöglich die evolutionären Ursprünge des menschlichen Gewissens
sein?
Lassen Sie
uns diese ungewöhnliche Frage anders formulieren. Bitte stellen Sie sich eine
Gruppe von Menschen auf einer kleinen, abgelegenen Insel mit begrenzten
Ressourcen vor. Welche Art von Individuum hätte auf lange Sicht die besseren
Überlebenschancen - eine ehrliche, moralische Person oder ein rücksichtsloser
Mensch wie Skip? Die liebenswürdige und mitfühlende Jackie Rubenstein oder
Doreen Littlefield? Sydney oder der unbeirrbar mit sich selbst beschäftigte
Luke? Hannah oder Hannahs Vater? Falls einige andere Menschen auf der Insel
wären, mit denen die Überlebenden über viele Generationen Nachkommen zeugen
könnten - und angenommen, dass Soziopathie zumindest teilweise erblich bedingt
ist -, würden wir nicht schließlich eine Insel haben, die hauptsächlich durch
Menschen ohne Gewissen bevölkert wäre? Würde nicht dann diese soziopathische
Bevölkerung sich gedankenlos daranmachen, die Ressourcen der Insel vollständig
zu erschöpfen und anschließend aussterben? Und falls dann doch noch Menschen
mit Gewissen auf der Insel zu finden wären, wo das Überleben schwierig wäre und
Rücksichtslosigkeit sich auszahlen würde - welche natürlichen Einflüsse könnten
womöglich ihren Sinn für Moral gefördert haben?
Gerade
wegen dieser für die Evolutionstheorie anscheinend unmöglichen Herausforderung
haben Naturalisten, Soziobiologen, vergleichende Psychologen und Philosophen
sich seit langem für die Ursprünge der Selbstlosigkeit bei den Menschen und
anderen Tieren interessiert. Wann immer wir das Verhalten der sogenannten
höheren Tiere sorgfältig beobachten, stellen wir eine scheinbar unüberwindliche
Zweiteilung zwischen eigennützigem Überlebenswillen und starkem
Gemeinschaftsinteresse fest. Und natürlich ist diese Zweiteilung nirgendwo
extremer ausgeprägt als bei der menschlichen Art. Wir konkurrieren erbittert
miteinander und lehren unsere Kinder, sich dem Wettbewerb zu stellen. Wir
finanzieren Kriege und Massenvernichtungswaffen. Wir finanzieren aber auch
Stiftungen, soziale Wohlfahrtsprogramme und Obdachlosenheime und versuchen,
unsere Kinder - genau dieselben Kinder - zu lehren, gutherzig zu sein.
Unsere Art
hat sowohl einen Napoleon als auch eine Mutter Teresa hervorgebracht.
Allerdings hätte nach der fundamentalen Evolutionstheorie Mutter Teresa niemals
geboren werden dürfen, da anscheinend weder Nächstenliebe noch ein Gefühl für
Gut und
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