Strafbataillon 999
Krüll.«
Schwanecke grinste breit. »Gleich stinkt's, Herr Oberleutnant. Rücken Sie ab – er scheißt in die Hosen …«
Aber Krüll beachtete ihn nicht. Mit weit offenen Augen sah er den Oberleutnant an. »Sie werden uns abknallen wie die Hasen«, sagte er, »wir können uns doch nicht so einfach abknallen lassen!«
»Warum eigentlich nicht?«
Obermeier rieb sich die klammen Hände. »Was glauben Sie denn, warum wir hier sind?«
Der Morgen graute, als der Pferdeschlitten in Gorki einfuhr und vor dem Kompaniegefechtsstand hielt. Jens Kentrop, der in Abwesenheit Obermeiers und Krülls die Kompaniegeschäfte führte, kam aus der Hütte gelaufen und machte Meldung. Die Unteroffiziere Peter Hefe und Hans Bortke waren mit den Schanzkolonnen draußen im Grabensystem und hatten mit dem in der vergangenen Nacht verlegten Feldtelefon durchgegeben, daß eine russische Patrouille hinter der deutschen HKL eine Arbeitskolonne beschossen habe. Da nur drei Karabiner und zwei Pistolen zur Verteidigung vorhanden waren, hatte die Kompanie schwere Verluste: sieben Tote und dreizehn Verwundete. Erst nachdem die Verstärkung mit einem MG und zwei Maschinenpistolen kam, zogen sich die Russen zurück und ließen drei Tote liegen.
Oberfeldwebel Krüll, der diese Meldung beim Aussteigen mitanhörte, hatte das Gefühl, die Welt würde über ihm einstürzen. Jetzt war es da, was er befürchtet hatte.
Obermeier schwieg. Er nickte Kentrop zu und ging mit gesenktem Kopf in die Hütte. Kentrop drehte sich zu Krüll um und sagte mißmutig:
»Es stinkt gewaltig. Und das ist nur der Anfang. Bei der 1. Kompanie hat es in dieser Nacht ganz fürchterlich gebumst.«
Deutschmann hatte diese Gespräche wie durch einen dicken Wattebausch vernommen. Er kümmerte sich nicht um die anderen. Mit abwesendem, starrem Blick, der in seine Augen gekommen war, nachdem er Dr. Kukills Brief gelesen hatte, setzte sich Deutschmann auf seine Pritsche in der winzigen Kammer, wo er schlief. Der verhängnisvolle Brief knisterte in seiner linken Brusttasche. Auf der ganzen Fahrt von Barssdowka nach Gorki hatte er kein Wort gesprochen, weder mit Obermeier, der ihn in Ruhe ließ, noch mit Krüll oder Schwanecke, die einige Male ein Gespräch beginnen wollten und immer wieder aufhörten, da er keine Antwort gab.
Julia ist tot. Das hatte er zwischen den Zeilen herausgelesen. Dr. Kukill hatte sie sterben sehen, sie hatte sich für ihn, Deutschmann, geopfert. Sie hatte beweisen wollen, daß er unschuldig war. Sie hatte an ihn geglaubt, an ihn und an seine Arbeit, sie hatte ihm vertraut – doch der Aktinstoff hatte auch bei ihr versagt. Was bedeutete es, daß Kukill ihn jetzt bat, Zusammensetzungen, Formeln, Versuchserfahrungen zu schicken, daß er schrieb, er glaube an die Möglichkeit eines Aktinstoffes, daß er beteuerte, er wolle ihn rehabilitieren? Das alles war nebensächlich, unwichtig gegen die Tatsache, daß Julia gestorben war, während er mit Tanja …
Es gab keinen Ausweg aus seiner Qual. Es gab keinen Ausweg vor den Selbstvorwürfen und der Selbstanprangerung. Und während er auf der Pritsche saß und vor sich hinstarrte, hatte er das Gefühl, er wäre schuld an Julias Tod, er allein. Niemand konnte ihm diese Schuld abnehmen, nie mehr würde er frei von ihr sein. Er nahm den Brief aus der Tasche und zerriß ihn in ganz kleine Teile, die er auf den Boden streute und mit den Stiefelsohlen in den Lehm rieb.
Oder – eine unsinnige Hoffnung regte sich in ihm – oder war Julia gar nicht gestorben? Kukill schrieb doch nur, daß sie sehr schwer krank sei, aber von ihrem Tod stand kein Wort in dem Brief. Vielleicht – vielleicht würde sie durchkommen, genauso wie er selbst durchgekommen war … vielleicht …
Unsinn!
Er wischte mit der Handfläche über sein Gesicht. Es war unsinnig, sich einer Hoffnung hinzugeben. Es gab keine mehr. Julia war tot.
Er zog seinen Mantel aus, legte ihn über die Pritsche, hielt mitten in der Bewegung inne und sah mit einem irren Blick um sich, als würde er etwas suchen. Es war irgend etwas, was er hatte tun wollen, es gab irgend etwas, was er erledigen mußte … nicht nur er war schuld an Julias Tod, nicht nur er … warum war er eigentlich hier? Warum mußte er hier sitzen in dieser elenden Kammer, verdreckt, verlaust … warum das alles? Wie kam es zu dem Abenteuer mit Tanja? Warum kam es dazu? Es war ein Abenteuer, es war ein Mittel, um zu vergessen, und das alles wäre nicht geschehen – wenn nicht dieser Mann gewesen
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