Strafbataillon 999
Jahren der erste Brief! Sie hatte nicht geschrieben, als er in Untersuchungshaft saß, sie hatte ihn verleugnet, als er ins Zuchthaus kam, sie hatte geschwiegen, als die SS ihn aus dem Zuchthaus holte und in das KZ Buchenwald brachte. Sie hatte ihn vergessen, als er in den thüringischen Steinbrüchen schuftete, als er mit bloßen Händen zentnerschwere Steinbrocken schleppte und den harten Basalt mit der Spitzhacke aus dem Berg brach. Und sie hatte geschwiegen, als er nach Rußland kam zu diesem verfluchten Bataillon der Verlorenen.
Aber nun schrieb sie!
Man mochte zu der Mutter stehen, wie man wollte, man mochte sie tausendmal verflucht haben, daß sie einen zur Welt gebracht hatte – aber Mutter blieb sie doch. Und wenn so ein Brief kam, dann war alles vergessen, dann fühlte man sich wie ein kleiner Junge, der gerade von irgend jemandem verdroschen worden war und nun zu seiner Mutter ging, um zu hören, daß es gar nicht so schlimm sei. Und ihre Hand auf dem Kopf zu spüren und noch ein bißchen zu heulen, aber dann war es ja wirklich nicht mehr so schlimm, nicht mehr, wenn sie es sagte und wenn sie einem über das Haar strich.
»Soldat Karl Schwanecke«, stand auf dem Briefumschlag.
Soldat!
»Scheiße!« sagte Schwanecke laut. Aber es klang so, als hätte er gesagt: Mach dir nichts draus, Mutter, ich bin ein Soldat, das ist eine verfluchte Sache, aber die andern sind's auch, und das ist gar nicht so schlimm. Ich komm' schon durch. Soldat hin oder her – unwichtig! Hauptsache, du hast endlich geschrieben!
Der Brief lautete:
»Lieber Karl!
Am Donnerstag vor 14 Tagen haben uns die Terrorflieger ausgebombt, alles ist kaputt, das Haus und die Möbel und Deine Schwester Irene war drin als die Bombe fiel. Sie war nicht sofort tot und hatte große Schmerzen und man hörte sie schreien aber sie war schon tot als man sie ausgebuddelt hat. Es ist eine schreckliche Zeit womit haben wir das verdient??? Jetzt geben sie mir keine neue Wohnung weil alles so voll ist und die Leute auf dem Bahnhof schlafen müssen aber der Bahnhof ist auch kaputt. Und sie sagen ihr Sohn ist ein Volksschädling und Gewaltverbrecher, sie bekommen keine Wohnung und was soll ich machen? Ich verfluche den Tag wo ich dich geboren habe und wenn ich daran denke wie schwer du auf die Welt kamst!!! Jetzt lebe ich draußen in einer Bretterbude es ist sehr kalt und es gibt keine Kohle und immer die Flieger ach, wäre schon dieses verfluchte Leben vorbei! Alles wegen Dir! Für Irene habe ich keinen Sarg bekommen, weil sie Schwanecke heißt und das ist wie der Teufel! Aber mir ist das alles jetzt egal. Das Leben ist sowieso nichts mehr, ich möchte auch Ruhe haben, vielleicht werde ich es dann haben, wenn ich tot bin. Es grüßt dich Deine Mutter
Herta Schwanecke«
Schwanecke las den Brief langsam, ganz langsam, Wort für Wort. Und als er fertig war, begann er noch einmal von vorne, als wollte er die Zeilen auswendig lernen. Beim Lesen bewegten sich seine Lippen langsam wie bei einem ins Gebet versunkenen Mann, der aus dem Gebetbuch buchstabierte. Und je länger er ihn las, desto fahler wurde sein Gesicht, farblos, eingefallen, knochig, grau.
Als er endlich fertig war, aufsah und über den Brief hinweg ins Leere starrte, brannten seine Augen tief unter den buschigen Brauen.
»Mensch – was hat er denn jetzt?« fragte Kronenberg leise.
»Was schreibt denn die Mutti?« schrie Krüll vom anderen Ende der Scheune.
Schwanecke hörte es nicht. Ein Brief nach fünf langen Jahren. Was hatte sie geschrieben? Ausgebombt … und der Name Schwanecke ist wie ein Teufel … sie möchte lieber tot sein …
»Schweine!« schrie er plötzlich auf. Er sprang hoch, den Kopf in den Nacken geworfen, den Mund weit offen, als könnte er keine Luft bekommen. »Schweine!« brüllte er grell, nur das eine Wort immer wieder. Dann zerknüllte er den Brief, schleuderte ihn in die Dunkelheit des Raumes und stampfte wie ein Irrer auf. »Mutter!« schrie er jetzt. »Mutter … alle sind Schweine! Alle!«
Krüll und Kronenberg stürzten zu ihm hin. Sie erreichten das Bett, als Schwanecke begann, mit Händen und Füßen seine Liege zu zerstören, brüllend, um sich schlagend, mit erschreckend verzerrtem Gesicht und irrsinnigen Augen.
»Weg!« schrie er. »Weg von hier! Ich bringe euch um, ich bringe alle um, alle!«
Kronenberg und Krüll wechselten einen schnellen Blick. Der Fall war klar: Schwanecke hatte einen Koller. Sie warfen sich auf den Tobenden, aber es mußten
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