Strafbataillon 999
kleine, breitschultrige, schlitzäugige Mongole lebte, schoß er nicht. Etwas Unerklärliches und ihm Unverständliches hielt ihn davon ab. War es Tartuchins Gleichgültigkeit oder nur scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod, die ihn, Schwanecke, hinderte, den Finger am Abzugshebel zu krümmen und eine kurze Garbe in den anderen hineinzujagen? War es der Fatalismus, den Tartuchin ausstrahlte, sein ergebener Gleichmut, die in sich selbst versunkene Ruhe, mit der er vor ihm stand und gleichmütig die nächste Minute erwartete, die ihn vielleicht tot oder sterbend sehen würde? Schwanecke schoß nicht, obwohl es für ihn leicht gewesen wäre, den Mongolen zu töten. Und plötzlich merkte er, wie die Hand, mit der er die Zigarette hielt, zitterte. Wütend über sich selbst und über seine Ohnmacht, über die unerklärliche Lähmung, die ihn befallen hatte, wütend über seine zitternde Hand, drückte er die Zigarette zusammen und warf die Mischung von Papier und glühendem Machorka mit einem funkensprühenden Schwung in die Ofenecke.
»Geh!« sagte er dann hart zu Tartuchin.
»Gehen? – Wohin?« In Tartuchins leblosen Augen glomm es auf.
»Wie soll ich das wissen? Verschwinde, woher du gekommen bist, zu den Deinen …«
»Meinen?«
»Stell dich nicht dumm!« sagte Schwanecke böse. »Glaubst du, ich weiß nicht, wer du bist und wohin du gehörst?«
»Du weißt!« sagte Tartuchin bestätigend. »Und warum du mich nicht tötest?«
»Ich tu's, bei Gott, ich tu's! Aber nicht hier!«
Blitzschnell griff Schwanecke über den Tisch, packte Tartuchin an der Brust, zog ihn mit übermenschlicher Kraft über den Tisch zu sich und schleuderte ihn gegen die Tür. »Geh!« schrie er, »hörst du? Wir treffen uns wieder, hau ab!«
Der Mongole fiel auf den Lehmboden neben der Tür. Stumm erhob er sich, ohne zu dem anderen zurückzuschauen, öffnete die Bohlentür und trat hinaus in den Schnee. Kälte wehte in den Raum und ergriff Schwanecke, der bleich am Tisch lehnte. Er sah noch, wie sich Tartuchin Schneeschuhe an die Pelzstiefel schnallte – breite, geflochtene, fast kreisrunde Treter, wie sie die Mongolen Innerasiens tragen, wenn der Schneesturm über den Himalaja und den Pamir heult und die Steppen zu einem eisigen Meer werden. Dann hörte er die knirschenden Tritte, die sich schnell entfernten.
Kronenberg war es, der Schwanecke wie aus einem Traum weckte. Polternd kam er in die Blockhütte, einen Sack Kartoffeln nach sich ziehend, den er in einem der Bauernhäuser unter Stroh versteckt gefunden hatte.
»Mensch, Karl, was is'n los?« rief er. Schwanecke schreckte empor und starrte Kronenberg abwesend an. »Was hast du mit dem Iwan gemacht? Der Kerl läuft wie'n Mondsüchtiger an mir vorbei, gibt keine Antwort und zockelt über die Steppe, als wollte er zu Fuß nach Moskau.« Er legte den Sack neben die Tür und kam in den niedrigen Raum. Der Geruch der Machorkazigaretten lag noch in der Hütte, beißend, streng, zum Husten reizend. Kronenberg schnupperte. »Geraucht habt ihr auch? Friedenspfeifchen, was?«
Schwanecke stieß sich vom Tisch ab, ging wortlos an Kronenberg vorbei, trat den Kartoffelsack, der den Eingang versperrte, zur Seite und stand dann in der kalten, niedrigen Nachmittagssonne. Der Schnee blendete. Wenn man die Augen schloß und die Lider nur einen kleinen Spalt öffnete und durch die Wimpern über den Schnee blickte, schimmerte er fast blau. Im Dorf wurden die Lastwagen hinter die Scheunen gefahren, über das Schneefeld außerhalb des Dorfes kam ein kleiner, geheizter Motorschlitten gefegt. Wahrscheinlich Verwundete für das neue Lazarett.
Kronenberg schleifte seinen Kartoffelsack hinter sich durch den Schnee und versuchte keuchend, Schwanecke auf den Fersen zu bleiben. »Was ist denn los mit dir?« fragte er. »Hast du die melancholische Tour?«
Ohne sich umzudrehen, stieß Schwanecke zwischen den Zähnen die zur damaligen Zeit häufigste Redensart aus, verlängerte seine Schritte und verschwand hinter einer Kate.
»Der wird nie ein feiner Mann«, sagte Kronenberg seufzend und wischte sich über die Stirn. »Auch nicht, wenn er klassische Dichter zitiert …«
Im Lazarett stand Dr. Hansen am Operationstisch. Deutschmann assistierte ihm. Sie arbeiteten schweigend, schnell, als wären sie bereits jahrelang aufeinander eingespielt. Nachdem der letzte Verwundete ›aufgearbeitet‹ war, wie es in der Sprache der Kriegsärzte hieß – eine tiefe Oberschenkelwunde mit einem zackigen
Weitere Kostenlose Bücher