Strafbataillon 999
die Lastwagen und hielt kreischend vor der Scheune. Aus dem geschlossenen Führerhaus sprang eine vermummte Gestalt, eine Maschinenpistole in der Hand. Sie schwenkte sie durch die Luft und rannte auf Kronenberg zu.
»Altes Rindvieh!« schrie sie.
Kronenberg lachte breit. »Mensch, Schwanecke, lebst du noch?«
»Mich bringt keiner so bald um!« grinste Schwanecke.
Tartuchin stand abseits, an die Scheunenwand gelehnt. Durch seinen Körper liefen lange Schauer. Sein breites gelbes Gesicht erschien plötzlich tot und unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt. Seine zerschossene linke Hand verbarg er im weiten Pelzärmel seines Mantels. Die Zähne hatte er zusammengebissen, daß ihm die Kiefer wehtaten. Aber er spürte es nicht. In diesen Augenblicken hätte man ihn in Stücke schneiden können, ohne daß er etwas gespürt hätte.
Schwanecke heißt er, überlegte Tartuchin. Langsam schloß er die kleinen schwarzen Augen. Heilige Mutter von Kasan, dachte er, es ist wie ein heißer Wind, der mir den Atem nimmt! Ich darf es nicht zeigen, ich darf es nicht zeigen! Ich werde erst wieder atmen und leben können, wenn er tot ist. Er ist ein großer, hungriger Wolf. Ich weiß: Wenn ich ihn töte, wird Rußland weiterleben. Seine Gedanken waren wie trunken, er fühlte seine Knie zittern, und er fürchtete, daß sein grenzenloser Haß – warum haßte er ihn eigentlich so furchtbar, war es nur wegen der Wunde an der Hand oder war es etwas anderes? – aus seinen Augen leuchten würde, wenn er sie aufmachte.
Ein Fausthieb in seinen Magen schreckte ihn auf. Schwanecke stand vor ihm, ganz nah, das unrasierte Gesicht im Widerschein einer Taschenlampe, die Kronenberg hielt. Tartuchin sah: ein wildes, erbarmungsloses, brutales Gesicht. Das Gesicht der Vernichtung. Kleine, stechende Augen, in denen sich Tartuchin wiederzufinden glaubte, und ein breites weißes Grinsen ohne Fröhlichkeit. Tartuchin atmete schnell. Er mußte sich mit der ganzen Kraft, deren er fähig war, zusammennehmen, um nicht vorzuspringen und Schwaneckes kurzen Hals zu würgen, bis dieses Grinsen in dem Gesicht des Mannes vor ihm zu einem Grinsen des Todes wurde. Seine Finger spreizten sich auseinander und zogen sich wieder zusammen.
»Hör mal zu, du gelber Affe!« sagte Schwanecke. »Geh zum Schlitten und lade das Holz ab. Los, mach weiter!« Er packte Tartuchin am Pelzkragen, riß ihn von der Scheunenwand und trat ihm ins Gesäß. Mit einem Satz flog der Mongole über die Straße und stürzte auf den Schlitten zu. Geschmeidig, katzengleich fing er sich auf und ging dann schnell, wortlos, mit halbgeschlossenen Augen zu der Ladefläche des Schlittens. Er dachte: Ich werde ihn kriegen. Ich werde kein Mensch mehr sein oder gerade ein Mensch, wenn ich ihn kriege. Wenn es einen Gott gibt, wird er mir verzeihen. Das waren die schlimmsten Stunden in Tartuchins Leben.
Schwanecke lachte breit, als der Mongole über die Straße schoß. Kronenberg knipste die Taschenlampe aus.
»Der wird nie dein Freund sein!« meinte er trocken.
»Wer ist schon mein Freund?« Schwanecke entkorkte die Flasche Schnaps, die der Sanitäter aus dem Mantel zog, und nahm einen tiefen Schluck. »Woher kommt er eigentlich?« Er betrachtete Tartuchin, der vom Schlitten die Bretter ablud und in den Schnee warf. Sein feiner Instinkt witterte die Feindschaft und den Haß, die der kleine Mongole ausstrahlte. Deutschmann schüttelte den Kopf.
»Ein Hiwi, wie alle anderen. Er hat sich überrollen lassen, wohnt hier in einer alten Hütte, schimpft auf Stalin und die Sowjets genauso wie auf uns und träumt von einem vollen Topf Kapusta. Er weiß nicht, warum er auf der Welt ist, alle treten ihn in den Hintern – genauso wie du.«
»Na, du mußt es ja wissen, du bist ein alter Soldat, was ? « spottete Schwanecke. »Übrigens muß ich dich nachher mitnehmen. Bei uns ist allerhand los, Doktorchen.«
»Wann?« fragte Deutschmann.
»Tagsüber geht's nicht. Da kommen wir nicht durch.«
Schwanecke meldete sich bei Dr. Bergen und Dr. Hansen und half mit, das Lazarett einzurichten. Der Morgen dämmerte fahl im Osten herauf, die Wipfel der Bäume wurden heller und schälten sich aus dem Schwarz der Nacht heraus. Am Tage war es ganz unmöglich, nach Gorki zurückzufahren; eine Strecke von sieben Kilometern wurde eingesehen und lag unter ständigem Feindbeschuß, sobald sich etwas über das weite Schneefeld bewegte. Die russische Artillerie war gut eingeschossen. So blieb Schwanecke den ganzen Tag über im
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