Strafbataillon 999
soll er wieder nach Orscha gehen … Die Heeresapotheke bekommt neues Material. Als ob etwas in der Luft liegt …«
»Mich wundert's ja schon lange, daß der Iwan so still ist. Die Felder sind steinhart gefroren, es gibt nicht allzuviel Schnee … die Russen können sich kein besseres Rollfeld für ihre Panzer wünschen. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, dann knallt es.«
»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Obermeier!« Dr. Bergen setzte sich und trank schnell einen Schluck Schnaps, den ihm Obermeier im Deckel seines Kochgeschirres reichte. »Aber ich komme nicht deswegen … wenn's losgeht, werden wir es früh genug wissen. Ich bin zwar kein alter Frontsoldat, aber man müßte aus Holz sein, um nicht zu spüren, daß dies – eh – wie man so sagt, die Ruhe vor dem Sturm ist. Was ich sagen wollte … Dr. Hansen hat da etwas entdeckt, was er mir erst heute gesagt hat. Er hat darüber ein Protokoll angefertigt … es geht um Bevern. Aber lesen Sie selbst, bitte.« Er reichte Obermeier einige Blätter Papier und trank noch einen Schluck Schnaps.
»Daß ihr Ärzte auch kein Deutsch schreiben könnt«, sagte Obermeier nach einer Weile seufzend.
»Also ich will's Ihnen erklären: An der Leiche von Oberleutnant Bevern wurde neben dem Einschuß im Kopf noch eine Schwellung am Kinn und, was wichtiger ist, eine am Kehlkopf seitlich, mit einem kleinen Bluterguß, festgestellt. Das bedeutet, daß diese Schwellungen schon da waren, bevor Bevern durch den Kopfschuß getötet wurde. Können Sie sich das erklären?«
»Was meinen Sie damit?«
»Passen Sie auf: Es ist möglich, daß Bevern bei seinem Inspektionsgang durch die Gräben ausgerutscht und hingefallen ist. Das könnte die Schwellung am Kinn erklären. Oder glauben Sie, daß er etwa in eine Schlägerei verwickelt war?«
»Kaum anzunehmen«, sagte Obermeier.
»Also, das wäre die Schwellung am Kinn. Aber wie erklären Sie sich die Schwellung und den Bluterguß am Hals? Diese können durch keinen Sturz entstehen. Ich war eine Zeitlang – es ist schon lange Jahre her – Polizeiarzt. Solche Schwellungen am Hals entstehen nur, wenn man mit einem stumpfen Gegenstand dagegenschlägt. Etwa mit einem dicken Stock oder …« Dr. Bergen schlug mit gestreckter Hand durch die Luft.
»Sie meinen – Handkantenschlag?« fragte Obermeier fassungslos.
»Kann sein …« Dr. Bergen zuckte mit den Schultern. »Solche Schläge können, wenn sie mit großer Wucht ausgeführt werden, tödlich sein.«
»Und Sie meinen …«
Dr. Bergen winkte ab. »Nein, nein. Beverns Tod ist eindeutig durch ein Infanteriegeschoß verursacht worden. Vorne 'rein, hinten 'raus – und Sie wissen ja, daß die modernen Infanteriegeschosse mit ihrer Rasanz bei Kopfdurchschüssen verheerende Wirkungen haben können. Und das ist bei Bevern geschehen. Aber – und das ist, worüber Sie sich Gedanken machen müssen: Der Schlag gegen Beverns Kehlkopf genügte, um ihn bewußtlos zu machen. Und das muß kurz vor dem Tode gewesen sein. Ich bin kein Detektiv – und Sie wahrscheinlich auch nicht. Aber Sie sind der Kompaniechef. Bei Ihnen ist das passiert...«
Schweigen.
Nach einer Weile sagte Obermeier langsam und schwer: »Wenn ich Sie recht verstanden habe, hat irgend jemand – wir wollen jetzt keinen Namen nennen – Bevern niedergeschlagen und ihn dann erschossen.«
Dr. Bergen trank wieder. »Hansen hat festgestellt, daß der Schuß nicht aus unmittelbarer Nähe abgefeuert wurde. Sie wissen ja, wir Mediziner können das. Wahrscheinlich war's doch ein russischer Scharfschütze. Ich möchte mich nicht festlegen … aber das, was Sie vorher gesagt haben, dürfte meiner Meinung nach der Wahrheit ziemlich nahekommen.«
»Also sprechen wir es aus: Schwanecke – niemand anders kann es gewesen sein – hatte Bevern zuerst k.o. geschlagen, ihn mit einem Handkantschlag noch tiefer betäubt und am Ende erschossen – oder von einem russischen Scharfschützen erschießen lassen. So etwas kann man arrangieren – wenn man Bescheid weiß …«
»Es war Bevern, aber …«
»Sie meinen – aber es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als diesen Bericht an Hauptmann Barth weiterzugeben«, beendete Obermeier.
»So ist es.« Dr. Bergen trank den restlichen Schnaps aus. Auch wenn er widerlich schmeckte, war es doch ein Gesöff, das ihm half, das Ganze zu ertragen. Alles, was sich hier abspielte, war ungeheuerlich, zu ungeheuerlich, um es mit wachen Sinnen und klarem Verstand ertragen zu können.
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