Strafbataillon 999
gibt. Damals war ich Dir dankbar für diese Worte, aber nicht so wie heute. Heute würde ich auch Dir dasselbe sagen.
Deine Julia.«
Sie legte den Brief, ohne ihn noch einmal zu überlesen, zu den anderen nicht abgeschickten Briefen, klappte die Ledermappe zu, in der sie die Schreiben aufbewahrte, und steckte sie in einen Koffer, den sie sorgfältig verschloß. Dann ging sie ins Labor und trat zu einem hölzernen Ständer, auf dem zwei kleine Phiolen mit leicht trüber Flüssigkeit standen.
Ohne mit der Hand zu zittern, zog sie zwei Spritzen mit der Flüssigkeit auf. Ihre Bewegungen waren knapp und ruhig.
Es war 11.17 Uhr vormittags.
Sie klappte eine Kladde auf und trug die Zeit mit dem Datum als Kopf des Berichtes ein, den sie über sich selbst schreiben wollte.
Sie schrieb:
11.19 Uhr. Erste Injektion mit 2 ccm Staphylokokkus aureus intramuskulär, in den musculus vastus lateralis.
Sie hatte die Einstichstelle am Oberschenkel vorher mit Alkohol gereinigt. Hinterher mußte sie darüber lächeln. Wie selbstverständlich waren ihr die einzelnen Handgriffe geworden! Sie reinigte die Einstichstelle, in die sie Eiter injizieren wollte! Über diese Widersinnigkeit lächelte sie noch, als sie mit der dünnen Hohlnadel in den Muskel stach, die Flüssigkeit schnell in das Fleisch drückte und die Nadel wieder mit einem Ruck herauszog.
Die zweite Spritze injizierte sie sich in den Unterarm. Anschließend trug sie in die Kladde ein:
11.22 Uhr: Injektion Nr. 2 in den musculus flexor digitorum profundus. Ich unterbreche hier den Versuch und warte die Wirkung ab.
Sie stellte den Wecker auf 21.00 Uhr und legte sich auf das alte Ledersofa. Hier hatte Ernst oft gegen Morgen, erschöpft von der durchwachten Nacht, ein oder zwei Stunden geschlafen. Die Vorhänge vor den beiden Fenstern waren zugezogen, es herrschte eine fahle Dämmerung, in der alle Gegenstände um sie unwirklich wurden. Neben dem Sofa stand auf einem Tischchen das Telefon. Daneben lag ein Zettel mit den Rufnummern Dr. Wisseks in der Charité und in seiner Wohnung.
Sie hatte versucht, an alles zu denken, bevor sie mit dem Experiment begann. Ihre Notizen wiesen auch die geringste Einzelheit auf. Kühl und überlegt ordnete sie, was zu ordnen war, wie ein alter, müder und über seinen Tod hinaus korrekter Mann, der mit seinem Leben abschloß, weil er das nahende Ende fühlte. Sie hatte sogar einen Brief an Dr. Kukill geschrieben, der – ohne daß sie es wollte – mit den bitteren Worten begann: »Wären Sie als gerichtlicher Sachverständiger mehr Ihrem Gewissen oder auch Ihrer Einsicht gefolgt und nicht den Vorurteilen des sogenannten ›Gebotes der Stunde‹, dann wäre es nie so weit gekommen, daß Sie diesen Brief lesen müssen …«
Es war vollbracht. Ruhig, als habe sie eine leichte Dosis Schlafmittel genommen, lag sie auf dem alten Ledersofa. Ihr Gesicht war sehr bleich und ihre Augen geschlossen. Sie dachte an Ernst. Sie dachte an den grausamen russischen Winter, von dem sie so viel gehört hatte. Ob er wohl einen Mantel hatte? Ob er wohl ihr Päckchen bekommen hatte mit den dicken Wollhandschuhen, Socken und Schal und dem Kuchen und zwei Schachteln Zigaretten und anderen Kleinigkeiten? Ob er Filzstiefel besaß? Oder sogar Pelzstiefel? Es waren kleine, vorbeifließende, zärtliche Gedanken einer Frau, die sich Sorgen um ihren Mann machte oder einer Mutter um ihren Sohn.
Am frühen Nachmittag – sie sah auf die Uhr: 14.16 – hörte sie, wie ein Wagen draußen vorfuhr. Am Motorengeräusch erkannte sie, daß es Dr. Kukills Auto war. Eine Weile war es still, dann gingen leise, über den Kies knirschende Schritte um das Haus. Dann klingelte es an der Eingangstür zweimal – dreimal – fünfmal. Einen Augenblick lang mußte sie mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, aufzustehen, zur Tür zu laufen, aufzuschließen und ihm alles zu erzählen, um Hilfe zu bitten, bevor es zu spät war. Doch sie blieb liegen, preßte die Hände gegen die Ohren und drehte den Kopf zur Wand. Und wieder nach einer langen Weile hörte sie, nun kaum vernehmbar, den Motor des Wagens anspringen. Dann entfernte sich das Geräusch schnell und erstarb.
Dr. Kukill war wieder fortgefahren.
Die Ruhe des leeren Hauses, die Dämmerung des Labors schläferten Julia ein. Sie schreckte hoch, als neben ihrem Kopf das Telefon schrill klingelte. Aber sie hob den Hörer nicht ab. Es war sicher wieder Dr. Kukill, und sie wollte ihn nicht sprechen.
18.47 Uhr: Sie sah auf die
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