Strafbataillon 999
Einstichstellen. Um die am Oberschenkel hatte sich ein kleiner roter Kreis gebildet. Am Unterarm zeigten sich keinerlei Symptome. Sie trug diese Beobachtungen gewissenhaft in die Kladde ein, maß ihre Temperatur und stellte am Oberschenkel eine leichte Druckempfindlichkeit fest.
Gegen 20.30 Uhr rief sie Dr. Wissek in der Charité an, noch bevor der Wecker zu klingeln begann, getrieben von einer starken Unruhe, der sie nicht Herr werden konnte und die ihr das Gefühl gab, als bekäme sie zu wenig Luft.
»Tag, Mädchen, wie geht's? Was kann ich für dich tun?« hörte sie die Stimme des Freundes wie durch das Rauschen einer Brandung. Sie fühlte ihre Stirn und zuckte zurück. Die Haut war glühend heiß und feucht.
»Und du, wie geht es dir?« fragte sie mit Mühe. »Hast du viel zu tun?«
»Wie immer. Der Operationssaal ist beinahe mein Schlafzimmer geworden.«
»Ich habe eine Bitte, Franzi …«
»Schieß los. Schon erfüllt!«
»Ich brauche ein Bett.«
»Hier in der Charité? Ausgeschlossen! Aber Julchen – wie stellst du dir das vor?« versuchte Dr. Wissek seine schroffe Absage zu mildern. »Wir haben die Patienten schon im Luftschutzkeller übereinander liegen. Hast du etwa auch – Privatpatienten?«
»Nein, ich brauche das Bett dringend, sonst würde ich nicht anrufen.«
»Um was handelt es sich denn?«
»Staphylokokkus aureus. Infektion. Unterarm und Oberschenkel«, sprach Julia langsam, schwer atmend.
»Schwer?«
»Ziemlich.«
»Also voraussichtlich Amputation. Wer ist es denn?«
»Ich«, sagte Julia.
Einen Augenblick war es auf der anderen Seite still. Dann kam aus dem Hörer ein zischendes Geräusch, als hätte der Mann am anderen Ende die Luft tief und krampfhaft eingeatmet, und dann hörte sie wieder seine Stimme, doch jetzt hoch, verändert, fassungslos: »Julia – Julia – was machst du, was ist geschehen?«
»Ich habe Ernsts Versuch wiederholt.« Julia zwang sich ruhig und klar zu sprechen, obwohl das Zimmer um sie zu tanzen begann und sie sich wie betrunken fühlte. »Die einzige Möglichkeit ist … mit Ernsts Aktinstoff … Hör zu, Franzi: Du kannst mich jetzt abholen. Ich liege im Labor auf dem Sofa. Auf dem Tisch wirst du den Aktinstoff finden und die Gebrauchsanweisung.« Bei dem letzten Wort nahm sie dreimal Anlauf, bevor sie es mit der trockenen, wie Glaspapier rauhen Zunge bilden konnte. »Halt dich daran, sonst ist alles umsonst. Hast du mich verstanden?«
»Ja – aber …«
»Ich kann jetzt nicht mehr weitersprechen. Mach's gut, Franzi und …« Sie wollte ›Auf Wiedersehen‹ sagen, aber sie brachte die Worte nicht sogleich heraus, und dann vergaß sie, was sie ihm sagen wollte. Mühselig legte sie den Hörer wieder auf und sank dann zurück. Es geht weiter, dachte sie sinnlos, immer weiter und hundert Millionen kleine Biester … eine Milliarde …
Oberfeldwebel Krüll schien an seinen Streifzügen durch die fertigen und halbfertigen Gräben Spaß gefunden zu haben. Die überraschten Gesichter der Männer, vor denen er plötzlich auftauchte, verschafften ihm eine tiefe Befriedigung, die größer war als seine Furcht vor russischem Artilleriefeuer. Zudem war es seit einigen Tagen an der Front merkwürdig still – eine Stille, die alte Soldaten nichts Gutes ahnen ließ – und so erschien ihm das Risiko der Besichtigungen nicht allzu groß. Möglich auch, daß er sich nach seinem ersten Erlebnis im Graben selbst beweisen wollte, er wäre nach der Feuertaufe ein furchtloser Krieger geworden. Jedenfalls fuhr er eines Abends zum drittenmal zu den Gräben. Doch diesmal lief es nicht so glimpflich ab. Als der Bautrupp am Waldrand entlangfuhr, wurde er plötzlich von Partisanen beschossen. Es war kein starker Feuerüberfall, eigentlich kaum der Rede wert, und niemand hätte ein Wort darüber verloren – wenn nicht ausgerechnet Krüll etwas abbekommen hätte.
Auf dem Verbandsplatz in Barssdowka fiel Kronenberg aus allen Wolken, als sich die Tür der Scheune öffnete und Oberfeldwebel Krüll eintrat.
Kronenberg warf seine Verbände hin und schob sich zwischen den Betten auf den Gang, den Krüll entlangkam. Erst jetzt sah er, daß sich der Oberfeldwebel auf einen Stock stützte und anscheinend nur mühsam gehen konnte.
»Das ist doch nicht möglich …«
»Was denn, mein Sohn?«
»Sie – Sie sind doch nicht verwundet?«
»Wenn es Sie beruhigt – ja, mich hat's erwischt. Schuß in den Hintern!«
»Wo – wohin?« Kronenberg schluckte. Das war einer der schönsten
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