Strandglut 27 Short(s) Stories
kein Regen. Das Sonnenband am Horizont wartet darauf zu siegen, während der Viertel-Mond noch mit den letzten Metern kämpft. Wie auf Schienen gleitet der Airbus durch die Luft.
„Wohin fliegen wir“, fragt Renate. Rosenthal nimmt ihre Hand. „In das Land, wo die Sonne niemals untergeht.“ „Das ist ja furchtbar“, sagt Renate. „Ja, genau. Und Leute wie Sie, die sind schuld daran.“ „Wieso wie ich?“
Magret Dünser lacht trocken. „Weil wir niemals wieder einen Sonnenuntergang erleben dürfen, solange noch jemand unseren Namen nennt. Sagt oder schreibt. Egal. Ich warne dich, Du hast hier nicht sehr viele Freunde. Deine ganzen Klatsch-Sendungen über die Promis der letzten 100 Jahre.“
Jetzt lächelt Rosenthal nicht mehr. Er grinst diabolisch. „Willkommen in der Prominentenhölle, gnädige Frau. Wir haben sie entführt.“ ‚Gleich werde ich wach, es ist nur ein Albtraum‘, denkt Renate. Sie will schreien. Ganz laut schreien. Ihr Blick fällt durch das Fenster. Der Himmel schimmert in allen türkis- und violett-Tönen. Sie fliegen in die Morgensonne.
Berliner Morgenpost, 11. November 2011
Taxifahrt in den Tod:
TV-Klatschreporterin Renate Wertmann bei Autounfall auf der Rudolph-Wissel-Brücke getötet.
Herzen aus Glas
Das Glasherz fiel auf den Sarg und zersprang. Ruth wandte sich ab, stumm, tränenlos. Sie schaute auf die Rücken der Trauergäste, die Abschied nahmen vom großen Bühringer. Dem Bühringer, Professor honoris causa, Chef der Bühringer Werke. Natürlich waren sie alle gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die Mitglieder des Lions Clubs, die Vertreter der IHK, der gesamte Vorstand nebst Ehefrauen, der Betriebsrat und die unzähligen Vertreter der sozialen Einrichtungen, deren Ehrenvorsitzender ihr Vater gewesen war. Sie drückten Ruth mit fester Hand und verhaltenem Murmeln ihr Mitgefühl aus.
Ruth schüttelte die Hände, sah kaum die Gesichter und ließ die Beileidsbekundungen genauso wenig in ihr Gehirn dringen wie vorher die Trauerrede. Noch drei Stunden, dann würde sie auch den Leichenschmaus überstanden haben. Lautlos summte sie das alte Kinderlied: ‚Maikäfer flieg. Dein Vater ist im Krieg. Deine Mutter ist in Pommernland, Pommernland ist abgebrannt, Maikäfer flieg.’
Ein leichter Wind ließ die Blätter der Linden rascheln. Ruth bekam trotz des warmen Sommertages eine Gänsehaut. Und dann hörte sie das Geräusch. Hörte es genauso wie das Kinderlied in ihrem Kopf: die zarten Klänge der gläsernen Herzen an den durchsichtigen Schnüren, die im Windhauch aneinander schlugen.
„Ihr Herr Vater war ein außergewöhnlicher Mann.“
„Ja, das war er.“
„Wir werden ihn vermissen.“
‚Mami, wo ist Papi?’
‚Dein Vater ist in Russland.’
‚Ich will nach Hause.’
‚Das geht nicht, Ruth. Zuhause ist Krieg. In Pommern sind wir in Sicherheit.’
Die Blätter der Linden erzitterten unter dem Dröhnen des Airbusses, der über ihren Köpfen zur Landung ansetzte. Wie in einem Film tauchten die Bilder vor ihr auf. Sie sah sich selbst, neben mit ihrem kleinen Bruder an der Hand laufend, eine magere Fünfjährige mit blonden Zöpfen und rutschenden Strümpfen.
‚Lauf Ruth, lauf, so schnell Du kannst, lauf zum Zug. Lauf Ruth!’
‚Ist das Krieg, Mami?’
‚Lauf Ruth, die Russen kommen!’
‚Aber bei denen ist doch Papi!’
‚Komm, komm schnell, da hinten sind Tiefflieger. Schmeiß dich in den Graben. Leg dich hin. Hinlegen!’
‚Maamii, ich habe solche Angst!’
‚Es wird alles gut Kind, es wird alles gut.’
‚Mami, Mami, der Ludwig ist voller Blut!’
‚Lauf, Ruth, lauf weiter.’
‚Mami, warum haben wir Ludwig nicht mitgenommen?’
‚Dein Bruder ist tot.’
‚Was ist tot, Mami?’
Das Blut pulsierte in Ruths Ohren. Jetzt bloß nicht schlapp machen. Die Beerdigung würde bald vorbei sein. Tsch, tsch, tsch ratterte es in ihrem Kopf. Wie durch einen Rauchschleier sah sie sich mit ihrer Mutter auf einem Koffer hockend in dem überfüllten Güterwaggon, der sie in Sicherheit bringen sollte.
„Alle haben ihn geliebt.“
‚Juhu, Mami, juhu, Papi ist wieder da!’
„Mein Beileid.“
’Papi hat sein kleines Mädchen sehr lieb.’
“Wir haben den Besten verloren.”
‚Mami, ich hab’ Angst.’
„Ich fühle mit Ihnen.“
‘Aua, Papi, aua!’
„Er hatte ein großes Herz.“
‚Nein, bitte, bitte, nicht. Nein!... Maikäfer flieg, Dein Vater ist im Krieg.’
„Wir weinen um ihn.“
‚Maaammmi,
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