Strandglut 27 Short(s) Stories
gelegt. „Sie Ärmste“, stieß er atemlos hervor, als er die alte Arzttasche auf den Couchtisch stellte, „das muss ja ein furchtbarer Schock für Sie gewesen sein, vom Ableben Ihrer Chefin aus der Zeitung zu erfahren“, sagte er und zog eine Spritze auf. „Nein, warten Sie“, sagte Verena, „ich will erst wissen, wie es passiert ist. Bitte nehmen Sie doch Platz, Herr Dr. Daniel.“ Widerwillig ließ sich der Arzt in Verenas braunen Ledersessel fallen. Seine Frau wartete mit einem Sauerbraten auf ihn. „Was soll schon passiert sein, Frau Lehmann“, sagte Dr. Daniel. „Sie war 97. Plötzlicher Herzstillstand. Das ist nicht so ungewöhnlich.“
Verena nickte. „Man hat sie also gerufen?“
„Ja, ich kriegte am Mittwochmorgen einen Anruf, dass ich bitte ins Haus der Otts komme soll, Frau Ott sei etwas passiert.“
„Wer hat Sie angerufen?“
„Die Frau von ihrem Neffen. Marion. Sie hatte für Adele das Frühstück bereitet und wollte ihr beim Waschen helfen. Ich konnte nur noch Adeles Tod bestätigen.“
„Einen natürlichen Tod?“
„Was sonst, Frau Lehmann, in dem Alter!“
„Wie sah sie aus, als sie sie gefunden haben?“, fragte Verena.
„Sie lag ganz friedlich mit der Bibel in den Händen im Bett und sah aus, als ob sie darüber eingeschlafen sei.“
„Kam Ihnen das nicht komisch vor?“
„Komisch, wieso?“
„Dr. Daniel, Sie wissen so gut wie ich, dass Adele Ott nach dem tragischen Unfall ihres Mannes und ihrer Tochter ihrem Glauben abgeschworen hatte. Die Bibel gehörte ihrem Mann Wilfried und sie hat sie als Erinnerungsstück auf ihrem Nachttisch aufbewahrt. Da hat sie als Untersetzer für Gläser und Teller gedient, damit das teure Walnussholz keine Ränder kriegte. Ich habe das gute Stück ständig abgewischt, aber gelesen hat Adele Ott nie mehr darin.“
Dr. Daniel schaute Verena nachdenklich an. „Jetzt wo Sie es sagen, ja, komisch, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Aber vielleicht hat sie ja in den letzten Stunden ihres Lebens zum Glauben zurückgefunden.“
Verena schaute ihn durchdringend an. „War die Bibel aufgeschlagen oder geschlossen?“
„Sie war geschlossen.“
„Hatte Verena eine Brille auf der Nase?“
„Dr. Daniel schüttelte den Kopf.
„Und das kommt Ihnen nicht komisch vor?“
„Jetzt wo Sie es sagen! Adele konnte ohne Brille kaum noch lesen.“
„Sagen Sie mal, Dr. Daniel, wie könnte man eine alte Dame ins Jenseits befördern, ohne dass ein ausgefuchster alter Hausarzt wie Sie das merkt?“
„Sie glauben doch nicht etwa, dass da jemand nachgeholfen hat?“, fragte Dr. Daniel.
„Ich bin mir fast sicher. Wussten Sie, dass sie in der kommenden Woche ein geändertes Testament notariell beglaubigen lassen wollte?“
„Merkwürdig. Also man hätte sie natürlich, während sie schlief, mit einem Kissen ersticken können. Oder ihr Insulin spritzen können.“
„Wann ist Ihrer Meinung nach der Tod eingetreten?“, fragte Verena. Dr. Daniel überlegte. „Nach dem Zustand der Leiche zu urteilen, schätze ich so gegen Mitternacht“, sagte der Arzt.
„Adele schlief nie vor zwei Uhr morgens. Es hätte sich jemand also nach zwei Uhr morgens in ihr Schlafzimmer schleichen müssen, um sie zu ersticken. Es sei denn, die ganze Familie hat mitgemacht.“
„Sie denken sehr schlecht von den Menschen, Frau Lehmann.“
„Es muss ihr also etwas gespritzt worden sein. Aber das hätte sich Adele nicht freiwillig gefallen lassen, sie hatte geradezu eine Spritzenphobie.“
„Man hätte ihr natürlich vorher ein Beruhigungsmittel statt der Gichttabletten geben können. Aber das kann man kaum nachweisen.“
„Doch. Man muss nur die Leiche nach einer Einstichstelle absuchen. Und eine Blutuntersuchung machen. Sie wird doch erst morgen beerdigt.“
„Frau Lehmann, Sie haben zu viele Krimis gesehen!“, sagte Dr. Daniel.
„Ich bin sicher, dass es etwas gibt, wenn man sucht. Ich werde mich in ihrem Zimmer umschauen, das können mir die Hinterbliebenen kaum verwehren.“ Verena schaute Dr. Daniel mit ihrem treuesten Hundeblick an. „Dr. Daniel, können Sie wirklich guten Gewissens einen möglichen Mord mithelfen zu vertuschen? Adele Ott war doch eine ihrer ältesten Patientinnen.“
„Ich habe die alte Kröte gemocht, glauben Sie mir“, sagte Dr. Daniel. „Aber was soll ich jetzt noch tun?“
Verena, deren Privatleben sich vorzugsweise vor dem Fernseher bei Krimiserien abspielte, zwinkerte ihm zu. „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie mit
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