Strandwoelfe
Straße, kaum noch bei Bewußtsein. Bolitho lief ebenfalls hin, um zu sehen, ob noch Hilfe möglich sei. Plötzlich blieb er jedoch abrupt stehen, denn im Schein der Laterne, die Robins hochhielt, hatte er etwas Helles durch das nasse Gras schimmern sehen.
Robins, rief schnell: »Moment, ich schaue nach, Sir!«
Zusammen kletterten sie den schlüpfrigen Hang hinauf, bis die Laterne eine am Boden ausgestreckte Gestalt schwach beleuchtete. Was Bolitho hatte schimmern sehen, war blondes Haar, das sich jetzt beim Näherkommen als blutverschmiert erwies.
»Bleiben Sie zurück!«
Bolitho nahm Robins die Laterne aus der Hand und rannte das letzte Stück des Weges, dann kniete er bei dem Leichnam nieder, packte den blauen Rock und drehte den leblosen Körper auf den Rücken. Im schwachen Lampenlicht schienen ihn die toten Augen ärgerlich anzustarren.
Er lockerte seinen Griff, beschämt über seine Erleichterung. Es war nicht Dancer, sondern ein Zöllner, niedergemäht bei dem Versuch, dem Gemetzel zu entkommen.
Er hörte Robins fragen: »Alles in Ordnung, Sir?«
Bolitho unterdrückte die in ihm aufsteigende Übelkeit und sagte: »Helfen Sie mir, den armen Kerl hinunterzuschaffen!«
Stunden später versammelten sie sich erschöpft und niedergeschlagen im ersten grauen Morgenlicht unten am Strand. Weitere sieben Überlebende waren gefunden worden oder beim Klang der Stimmen aus ihren Verstecken hervorgekommen. Doch Martyn Dancer war nicht darunter.
Als Bolitho wieder an Bord des Kutters stieg, sagte Gloag mit rauher Stimme: »Solange er am Leben ist, besteht auch noch Hoffnung, Mr. Bolitho.«
Dieser sah der ablegenden Jolle zu, in der Peploe, der Segelmacher, und sein Maat mit ernsten Gesichtern an Land fuhren, die Toten für ihre Bestattung einzunähen.
Sie hatten teuer bezahlen müssen für diese Nacht, dachte Bolitho unglücklich. Ihm kam der blonde Tote in den Sinn, seine eigene Verzweiflung, die sich in Hoffnung gewandelt hatte, als er feststellte, daß es nicht sein Freund war, der da vor ihm lag.
Aber jetzt, als er die blasse Küstenlinie mit den kleinen Gestalten darauf betrachtete, hatte er das Gefühl, daß diese Hoffnung nicht sehr groß war.
Stimm e i m Dunkel
Harriet Bolitho trat ein, ihr langes Samtgewand streifte geräuschlos die Tür. Einen Augenblick blieb sie stehen und betrachtete ihren Sohn, dessen Gestalt sich als Silhouette gegen das Kaminfeuer abhob. Die Hände hielt er den Flammen entgegengestreckt.
Dicht daneben saß Nancy auf dem Teppich, die Knie bis zum Kinn hochgezogen. Sie beobachtete ihren Bruder so intensiv, als wolle sie ihn zum Sprechen zwingen.
Durch die andere Doppeltür hörte sie undeutliche Stimmen. Schon über eine Stunde beratschlagten sie in der angrenzenden Bibliothek: Sir Henry Vyvyan, Colonel de Crespigny von den Dragonern und natürlich Hugh Bolitho.
Wie so oft hatte auch diesmal die Nachricht von dem Überfall und von der Erbeutung des Schmuggelschiffes Falmouth auf dem Landweg viel schneller erreicht als die Hauptakteure selbst. Lange bevor die Avenge r und ihre Prise auf der Reede ankerten, wußte man schon alles, was sich auf See abgespielt hatte.
Harriet Bolithos insgeheime Befürchtung, daß sich etwas dieser Art ereignen würde, hatte sich bewahrheitet. Hugh war immer eigensinnig gewesen, nie wollte er auf den Rat anderer hören. Sein jetziges Kommando, so klein es auch sein mochte, war das ungünstigste, was man sich für ihn vorstellen konnte. Er brauchte eine feste Hand wie die des Kommandanten der Gorgon, Richards Schiff.
Sie richtete sich auf und durchschritt mühsam lächelnd den Raum. Die beiden hätten ihren Vater jetzt nötiger gebraucht, denn Richard blickte ihr mit angespanntem Gesicht entgegen.
»Wie lange werden sie noch bleiben?«
Sie hob die Schultern. »Der Oberst versucht zu erklären, warum seine Leute dem Transport nicht zu Hilfe kommen konnten. Sie waren im letzten Augenblick wegen eines Goldtransportes nach Bodmin zurückbeordert worden. De Crespigny hat eine Untersuchung angeordnet und auch nach unserem Friedensrichter geschickt.«
Bolitho betrachtete seine Hände. Er stand ganz dicht am Feuer, fror aber noch immer. Das von seinem Bruder erwähnte Wespennest war mitten unter ihnen aufgescheucht worden.
Wie die bestürzten und verwirrten Überlebenden des Überfalls, so hatte auch er zuerst einen tiefen Groll gegen die Dragoner verspürt, weil sie nicht zur Hilfe gekommen waren. Aber als er Zeit zum Nachdenken fand, begriff er das
Weitere Kostenlose Bücher