Strange Angels: Verraten: Roman (PAN) (German Edition)
ebenfalls, und jeder Millimeter von mir war hellwach. Die dauernde Erschöpfung der letzten schlaflosen Tage war fort, einer gewaltigen, knisternden Energie gewichen.
Graves’ anderer Arm schlang sich um meinen Hals und würgte mich, als ich mich ihm entwinden wollte. Meine Zähne gaben leise Klicklaute von sich, als sie zusammenschlugen. Die Wölfe knurrten lauter, doch Graves gab wieder dieses markerschütternde Geräusch von sich, und sie blieben zurück.
Ich würde gern behaupten, dass ich erleichtert war, als Shanks sich inmitten der Werwölfe aufrichtete, sein Gesicht blutverschmiert und seine Augen funkelnd. Aber das war ich nicht. Ich wollte ihm das Zeug ablecken, meine Zähne in seine Kehle versenken und trinken.
Shanks knurrte, und Graves donnerte zurück. Ich habe keine Ahnung, was geschehen wäre, hätte in diesem Moment nicht eine Flut von Djamphiren die Tür aufgestoßen und mich umringt. Sie drückten mich hinunter und hielten mich, als ich zu schreien anfing und Graves wegstoßen wollte. Doch er blieb. Er ließ nicht einmal meine Hand los, als ich sie so fest zusammenpresste, dass ich die Knochen in unseren Händen knacken hörte.
Es war das erste Mal, dass der Bluthunger mich packte. Und jetzt, bei Gott, verstand ich so viel mehr!
Graves verließ mich nicht, obgleich alle herumbrüllten. Er blieb da, machte wieder und wieder ein Geräusch, bis ich schließlich begriff, dass er meinen Namen sagte. Der Hunger erreichte einen Höhepunkt, ehe er endlich abebbte und ich zu weinen begann. Graves war es, der mich in die Arme nahm. Ich schluchzte und zitterte wie ein Kleinkind, und einige von ihnen sagten ihm, er sollte weggehen, doch Graves schüttelte sie einfach ab und hielt mich.
Ich klammerte mich an ihn, so dass sie mich nicht fortziehen konnten.
Kapitel 13
G raves stellte den Bücherstapel mit einem dumpfen Knall auf den Holztisch. Meine Zähne schmerzten noch, wie überhaupt alles an mir. Aber anscheinend war die Szene vorhin nichts Ungewöhnliches für die Schola gewesen. Shanks kurierte sich in den Bädern; Graves schwänzte, was immer er eigentlich hätte tun sollen, und mich hatte man angewiesen, »irgendwohin zu gehen und mich zu beruhigen«.
Ja, klar, beruhigen! Das sinnloseste Wort unserer Sprache überhaupt. Wenigstens hatte Dylan mir erzählt, dass die Gefahr vorbei wäre und ich nicht losziehen und jemanden beißen würde. Er meinte, es wäre normal, weil ich so kurz vor der Blüte stand. Und dass ich mich daran gewöhnen würde.
Dessen war ich mir weniger sicher.
Außerdem versicherte Dylan, sie hätten seit ungefähr zweiundsechzig Jahren keinen »Tod durch Schülerauseinandersetzungen« an der Schola erlebt, was ich nicht so tröstlich fand, wie es sich anhören sollte.
Die Bibliothek roch nach Staub und altem Papier. Durch die vergitterten Fenster fielen scharfkantige Strahlen des Abendlichts herein und streiften die antiken Holzregale. Die Sonne war endlich herausgekommen, allerdings zu spät, als dass sie noch viel hätte ausrichten können. Es saß niemand am Ausgabetresen.
Was gut war, denn ich roch nach wie vor das Blut. Meine Zähne waren immer noch empfindlich, als wäre ich eben beim Zahnarzt gewesen. Meine Nerven lagen blank, und ich saß mit verschränkten Armen da.
»Das ist total verrückt. Du bist verrückt«, sagte Graves ruhig. »Was hast du vor? Willst du ihn in deinem Zimmer festbinden? Die bringen ihn um.«
Zumindest redete er über etwas anderes, als dass ich Reißzähne bekam und als Nosferat auf jemanden losgehen wollte. Er weigerte sich schlicht, über das Thema zu sprechen, und dafür war ich ihm dankbar.
Na ja, so dankbar, wie ich es mit einem Verstand sein konnte, der seine Arbeit verweigerte, mit Haaren, die ihre Farbe änderten und … mein Gott, was passierte mit mir?
Wer war ich? Wenn ich in den Spiegel guckte, würde ich immer noch mich sehen?
Es war, als steckte man in einem Gruselkabinett fest und müsste sich diese Frage stellen. Wer sich das nicht vorstellen kann, sollte es ruhig einmal ausprobieren: in einen Dungeon gehen und sich fragen, welcher Horror echt und welcher nur Spaß ist. Man warte ab, was dann passiert. In solch einer Situation nämlich wird alles in einem, was keine unerschütterliche Tatsache ist, restlos durcheinandergebracht.
Und von mir war herzlich wenig übrig, das ich als unerschütterliche Tatsache bezeichnen konnte.
Wenn ich es schaffte, mich auf anderes zu konzentrieren, stand ich all das vielleicht durch.
Weitere Kostenlose Bücher