Strange Angels: Verraten: Roman (PAN) (German Edition)
»Irgendetwas passt nicht.« Wenigstens lispelte ich nicht mehr um meine Reißzähne herum. Mein Gebiss war wieder normal, trotzdem tastete ich meine Vorderzähne minütlich mit der Zunge ab. Ja, es fühlte sich normal an – abgesehen von dem Schmerz und dem Durst hinten in meiner Kehle. »Er war so dicht bei mir, Graves! Und er hat nichts weiter gemacht, außer an mir zu schnüffeln. Ich …«
»Ist ja gut!« Er sank auf einen Stuhl und sah mich streng an. »Was ist verdammt noch mal mit dir los, Dru?«
Du meinst, außer dass mein Dad ermordet wurde, ich erfahren habe, dass ich zum Teil ein Blutsauger bin, ich gejagt und zusammengeschlagen wurde und mich in ein blutrünstiges Monster verwandelt habe und jemanden richtig ernsthaft verletzen wollte? Nein, ansonsten ist alles rosig, echt bestens. Super, ehrlich! Ich öffnete den Mund, um etwas Kluges oder wenigstens weniger Blödes als sonst zu sagen, klappte ihn aber gleich wieder zu. Was konnte ich schon antworten?
Es war hoffnungslos. Ich sah auf die matt glänzende Tischfläche hinab. Hitze stieg hinter meinen Augen auf, während die wabernde Wutblase in meiner Brust einen Tick größer wurde, und ich schluckte. Mittels schierer Willenskraft drosselte ich meinen Zorn.
Konnte ich, nachdem ich wusste, was der Bluthunger mit einem anstellte, jemals wieder in den Spiegel schauen? Oder einen anderen der Djamphire ansehen, ohne zusammenzuzucken?
»Komm schon«, forderte Graves mich auf, dessen Blick ich auf mir fühlte, »sag was, Dru! Sitz nicht da und leide stumm, als hätte ich dich abgestochen, verflucht!«
Der Sonnenschein wurde von der einbrechenden Dämmerung gedämpft. Ich sank auf dem Stuhl nach hinten und schlang die Arme fester um meinen Oberkörper. Das Wirbeln in mir wollte nicht aufhören. Ich atmete ein, atmete aus, versuchte, es zu verlangsamen. Falls ich jetzt durchdrehte, was zur Hölle könnte noch passieren?
Würde ich auf Graves losgehen? Würden meine Zähne lang und scharf, und würde ich mich auf seine Kehle stürzen und trinken wollen?
Meine Brust schmerzte.
»Raus damit!«, ermutigte er mich sanft. »Was machst du denn? Wenn du weiter alles in dich reinfrisst, kriegst du noch ein Magengeschwür oder so. Ich bin hier, okay? Ich habe bisher alles ausgehalten, was diese Schule einem an den Kopf schleudern kann, und ich gehe trotzdem nicht weg.«
Was mich bloß noch elender machte. Er war meinetwegen hier. Na klasse! »Möchtest du je wieder zurück?« Ich hatte Mühe, halbwegs ruhig zu sprechen. Die erstickenden Schmerzen in meinem Brustkorb waren dieselben wie auf dem Krankenhausflur, als Gran gestorben war und ich mir immerfort gesagt hatte: Mein Dad kommt. Er kümmert sich um alles. Er ist unterwegs. Und ich hatte inständig gehofft, dass es wahr war.
Gebetet, dass es stimmte. Aber diesmal war ich endgültig allein zurückgeblieben. Es gab niemanden, der kommen und mich holen würde. Jedenfalls niemanden Nettes.
Und je eher ich anfing, damit klarzukommen, umso besser. Gott, dieser Gedanke jagte mir eine Riesenangst ein!
Graves war einige lange Momente still. »Scheiße, nein!«, antwortete er schließlich. »Also, ich weiß ja nicht, ob du es mitbekommen hast, Dru, aber ich habe keinen lauschigen Kamin in einem plüschigen Einfamilienhaus mit Gartenzaun, zu dem ich zurückgehen kann. Ich war obdachlos, okay?«
Ja, das schien mir auch so, nur war es völlig anders, wenn er die Worte laut aussprach. »Du hattest …«
»Das Kabuff im Einkaufszentrum? Scheiße, welcher Teenie haust schon in einem Einkaufszentrum? Hier gibt es immerhin genug zu essen. Hier habe ich ein Bett, das ich mir verdient habe, und das behalte ich. Keiner versucht, mich zu beklauen oder zusammenzuschlagen, weil er zufällig gerade besoffen ist.« Er atmete tief ein und langsam wieder aus. »Hier gibt es wenigstens Regeln. Mit Werwölfen und Vampiren komme ich klar. Was ich von den Erwachsenen in der anderen Welt nicht behaupten konnte. Die … Wenigstens hat das Böse hier Gründe. Es ist nicht bloß …« Er suchte nach dem richtigen Wort, und für einen Augenblick verzog er das Gesicht. »Es ist nicht bloß sinnlos. «
Was mit meinem Dad passiert ist, war sinnlos. Das sprach ich nicht aus. Wie hätte ich so etwas zu jemandem sagen können? »Du wolltest Mathematikprofessor werden.« Meine Kehle war so eng, dass ich nur flüstern konnte.
»Tja, na ja, die Umstände haben sich geändert. Jetzt möchte ich hier sein.« Noch eine unendliche Minutenpause
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