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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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mit Jackett, hellem Hemd, sie mit schwarzer Strickjacke – offenbar so betrunken war, dass sich beide, Schulter an Schulter, gegenseitig stützen mussten wie die Drogensüchtigen in der Straße der Diebe. Links im Hintergrund fiel orangefarbenes Licht durch eine Fensterscheibe, eine apokalyptische Beleuchtung, von der man nicht wusste, ob sie vom Sonnenuntergang, vom Sonnenaufgang oder von einer Glühbirne im Treppenflur herrührte. In ihrem gigantischem Format ging von der Gesamtkomposition eine außerordentliche Kraft aus; von dem Lächeln des Typen mit Hut bis zur behaarten Brust auf der gegenüberliegenden Seite führte eine Bewegung diagonal durchs Bild; die Körperhaare leuchteten auf der gelblichen Haut, die roten Bierdosen explodierten auf dem Tisch; die Mädchen in ihren Spitzen- BH s hatten Speckwülste, müde Gesichter, schwere Brüste; die gut gekleidete Blondine hatte die Augen geschlossen, um die tiefe Augenringe lagen, ihr langes flachsblondes Haar kotzte in den Müll auf dem Tisch, in die Tabakbrösel, die alten Pommes, die Weinlachen.
    Bassam stand direkt vor dem Bild, er betrachtete jede einzelne Person, dann schüttelte er mit ungläubiger Miene den Kopf und murmelte etwas; er trat zurück, um das Foto als Ganzes zu betrachten, und drehte sich mit fragendem Blick zu mir um – was ist das? Werbung?, fragte er mich angewidert; ich antwortete lachend, ich glaube nicht, Alter, das ist Kunst. Bassam war nicht nach Lachen zumute, er wirkte erschrocken, er sagte, Lakhdar, wenn du hier bleibst, wirst du so enden wie die, darüber musste ich noch mehr lachen, ich sagte, Bassam, du bist übergeschnappt, und er, siehst du denn nicht, das ist eine Parodie auf die Sure Der Tisch , Du Gott und Herr! Sende uns vom Himmel einen gedeckten Tisch herab, der für den Ersten und Letzten von uns eine Feier von dir sein wird! , das ist Gotteslästerung, er sah total ernst aus, entsetzt und wütend zugleich.
    Ich hatte keine große Ahnung von Kunst, aber mit Ausnahme des Tisches natürlich fiel es schwer, in diesem Foto irgendetwas Religiöses zu sehen, im Gegenteil, es war vollkommen dekadent, obszön und dekadent.
    »Alter, du siehst Gespenster, komm, wir gehen.«
    Doch er konnte seinen Blick nicht von dem Bild abwenden; er fixierte die Mädchen in Unterwäsche, die Weinflaschen und den Mann mit dem Hut voller Hass – wenn er gekonnt hätte, hätte er bestimmt die Scheibe eingeschlagen.
    »Sollen wir es kaufen? Soll ich mal fragen, ob sie dir eine kleine Kopie für zu Hause machen können? Ich könnte für dich ein Foto mit meinem Handy davon machen.«
    Er sah mich wutentbrannt an, das Ding ist eine Beleidigung Gottes, dieses Land ist eine Beleidigung Gottes, er hob die Augen zum Himmel.
    »Nun komm schon, lass uns gehen.«
    Ich war schon losmarschiert, und schließlich folgte er mir; dabei brummte er Verwünschungen.
    Ich wusste, wohin ich mit ihm gehen musste, damit er sich beruhigte. Ich pfiff auf das Risiko, in einem öffentlichen Verkehrsmittel kontrolliert zu werden, wir stiegen in den Bus Richtung Barceloneta – als Bassam mich fragte, wohin wir fuhren, antwortete ich, ins Paradies. Das fand er gar nicht lustig, hör auf mit deinen Gotteslästerungen, fuhr er mich schroff an, bevor er wieder wie schon zu Beginn des Nachmittags in sein Schweigen verfiel.
    Als wir am Ende des Damms ankamen, konnte er sich beim Anblick des riesigen Hotels in Form eines Segels, dessen Fassaden in der Sonne funkelten, und dazu rechts der Seilbahn, die den Hafen überquerte und irgendwo in der Ferne im Grün des Montjuïc verschwand, einen bewundernden Pfiff nicht verkneifen.
    »Warte, es kommt noch besser.«
    Es war Samstag, und ich wusste, dass der Strand schwarz vor Menschen sein würde. Ich hatte meine Schuhe ausgezogen und schleppte Bassam zum Meer.
    »Was ist in dich gefahren, du willst doch nicht etwa baden?«
    Ich marschierte voraus über den glühenden Sand, das Licht blendete, obwohl es Abend war; die Sonne war noch nicht untergegangen dort hinten, im Westen, hinter der Straße der Diebe. Ich wusste, wenn ich vorausging, würde ich Bassams Gesichtsausdruck und seine Ausrufe verpassen; aber die Leiber lagen so dicht gedrängt, dass wir zwischen den nackten Brüsten und den geölten Schenkeln hintereinander hergehen mussten. Ein Dutzend Meter vom Wasser entfernt fand ich ein freies Plätzchen; ich ließ mich auf den Boden fallen. Bassam setzte sich im Schneidersitz hin, die Augen aufs Meer gerichtet; dort hinten spielt die

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