Straße der Diebe
Staatsanwalt seinen langen und düsteren Strafantrag stellte, in dem das Boshafte der Vorsätzlichkeit glänzte, und meine Verteidigerin in ihrem Plädoyer argumentierte, ich sei ein irregeleitetes Kind, jung, zu jung, um zwanzig Jahre im Gefängnis zu sitzen, ich hätte versucht, die Gesellschaft zu verteidigen, ich hätte, wie sie sagte, auf schlechte Weise für das Gute gekämpft und verdiente eine nachsichtige Behandlung seitens der Geschworenen, als der Vorsitzende Richter mich fragte, ob ich etwas hinzufügen wolle, erhob ich mich gegen den Rat meiner Verteidigerin, die hinter ihrer Brille wütend mit den Augen rollte; ich sah zu Judit im Publikum, Judit, die trotz ihrer Blässe schöner war denn je und die ein ermutigendes Lächeln auf ihren Lippen hatte; ich wandte mich den Geschworenen zu und sagte ruhig, in der Hoffnung, dass meine Stimme nicht allzu sehr zitterte:
»Ich bin kein Mörder, ich bin mehr als das.
Ich bin kein Marokkaner, ich bin kein Franzose, ich bin kein Spanier, ich bin mehr als das.
Ich bin kein Muslim, ich bin mehr als das.
Machen Sie also mit mir, was Sie wollen.«
Auf dem Rückweg kommt Ibn Battuta wieder durch Syrien; er versucht dort seinen Sohn zu treffen, der kurze Zeit nach seiner Abreise aus Damaskus zwanzig Jahre zuvor geboren wurde – die Bevölkerung des Landes ist damals von der Großen Pest dezimiert, zweitausendvierhundert Menschen sterben täglich daran, und von Gaza bis Aleppo ist die ganze Region von der Epidemie verwüstet; auch der Sohn Ibn Battutas ist gestorben. Der Reisende erfährt von einem alten, aus Tanger stammenden Mann, den er nach Neuigkeiten aus der Heimat fragt, dass sein Vater fünfzehn Jahre zuvor aus dem Leben geschieden war und seine Mutter dort, im Westen, soeben gestorben ist. Anschließend gelangt er nach Alexandria, wo die Pest an einem einzigen Tag tausendeinhundert Menschen dahingerafft hat, dann nach Kairo, wo, wie er erzählt, zwanzigtausend gestorben sind; keiner der Scheichs, die er auf der Hinfahrt getroffen hatte, ist noch am Leben. Er kehrt nach Marokko zurück und macht einen Abstecher nach Tanger, um das Grab seiner Mutter zu besuchen, bevor er sich endgültig in Fez niederlässt.
Heute, da die Pest wieder zurück ist, da ihr Hauch über große Teile der Welt wieder grollend niederfällt, da ich im Gefängnishof die Nachfolger Hassans des Narren im Kreis herumgehen sehe, alle, die gerne ihre Mutter wiedersehen würden, bevor sie stirbt, ihre Stadt, ihre Welt, bevor sie verschwindet, heute betrachte ich mich im Spiegel, in der angenehmen Begleitung der Bücher, im klösterlich geregelten Gefängnisleben; ich sehe die weißen Haarsträhnen an meinen Schläfen, meine schwarzen Augen, meine Hände mit den abgekauten Fingernägeln; ich frage mich nach meiner Schuld, und manchmal, nach einem Albtraum, der schlimmer war als sonst, ein blutiger Traum, der Anblick eines Gehängten, einer Frau, die von chirurgischen Messern zerwühlt wird, von den Leichen ertrunkener Jugendlicher, prüfe ich mich im Stillen und finde keine Gewissheit, nicht die geringste; ich denke zurück an Cruz, an Bassam, an Bassams letzten Blick; ich denke an Meryem, an Judit, an Saadi, den Seemann; mein Bedauern zerstreut sich von selbst, löst sich auf; ich habe die Welt gut gebraucht. Das Leben zehrt alles auf – Bücher begleiten uns wie meine billigen Krimis, die Proletarier der Literatur, Weggefährten in der Revolte oder in der Resignation, im Glauben oder im Verzicht darauf.
Die Menschen sind Hunde mit leerem Blick, sie wandern im Halbdunkel im Kreis, rennen einem Ball hinterher, streiten um ein Weibchen, um einen Platz in einer Hundehütte, sie liegen stundenlang mit heraushängender Zunge da und warten darauf, dass man ihnen mit einer letzten zärtlichen Geste das Genick bricht – warum trifft man in einem bestimmten Augenblick eine Entscheidung, warum heute, warum jetzt, vielleicht hat ja er entschieden und nicht ich, Bassam saß da im Wohnzimmer, mit geradem Rücken, und schien mich anzusehen; das Licht von der Straße warf seinen Schatten an Mounirs Tür, die geschlossen war, er sagte nichts, er hatte mich aus meinem Zimmer kommen sehen; der Schein der Straßenlampe spiegelte sich auf seinem rasierten Schädel, im Gegenlicht glänzte sein Gesicht wie ein Saphir: schweigende Formen, wo die Wangen waren, düstere Augenringe, Erstarrung; er wartete in der Stille; er wartete auf Gott, auf DIE Stunde, auf mich – er fixierte mich in der Dunkelheit, die
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