Straße der Diebe
Frau, die ein ganzes Regiment von Klageweibern um ihr Bett versammelt hatte und ziemlich schnell in eine andere Abteilung des Gebäudes verlegt wurde: Im Krankenhaus muss man im Sterben liegen, um ein Einzelzimmer zu bekommen, das Röcheln der Sterbenden und das Schluchzen der Familie sollen die Bettnachbarin nicht deprimieren, die noch um ihr Leben kämpft – und selbst wenn Judits Tumor gutartig war, musste sie eine ganze Reihe von Behandlungen vor der eigentlichen Operation über sich ergehen lassen; es fehlte nicht viel, und ich hätte wieder zu beten begonnen, wäre ich nicht mehr und mehr von der Ungerechtigkeit Gottes überzeugt gewesen, in der sich seine Abwesenheit nur allzu deutlich zeigte. Trotz allem schien Judit nicht den Mut zu verlieren – sie hatte Hoffnung, die Ärzte waren optimistisch, und nur ihre Mutter, Núria, die ich bei jedem meiner Besuche sah, schien sichtlich zu altern. Sie verließ das Zimmer ihrer Tochter fast nicht mehr, empfing die Besucher, erklärte die Entwicklung der Krankheit, als ob diese sie selbst ereilt hätte; Judit musste manchmal im Bett liegen, manchmal saß sie in einem Sessel; ich blieb eine Viertelstunde, dann ging ich wieder. Wir sprachen über alles und nichts, über das Wetter, über den Stand der Dinge in der arabischen Welt, über den Krieg in Syrien, auch über unsere gemeinsamen Erinnerungen – über Tanger, über Tunis, und wenn ich an diese verschwundenen Glücksmomente zurückdachte, begann meine Stimme zu zittern, was ein bisschen lächerlich war, und meine Augen zuckten, und dann ging ich wieder, verabschiedete mich von Núria und umarmte vorsichtig Judit, die mich fest in ihre Arme schlang, ich ging hinaus durch die nach Tod stinkenden Flure, zwischen Krankenschwestern, Patienten, die mit Infusionen umherwanderten, auf den Vorplatz hinuntergingen, um eine Zigarette zu rauchen, eine ganze Herde von Kerlen in Schlafanzügen, jeder auf seinen Galgen gestützt, an dem eine Flasche hing, deren Schlauch in den Venen an ihrem Handgelenk oder ihrem Ellbogen steckte, alle rauchten, begleitet von ein paar nachsichtigen Krankenpflegern oder Ärzten, und hielten ein Schwätzchen, es war ein Festival der Pflaster und der Narben, der herunterhängenden Katheter und grünen Kittel, also ergriff ich die Flucht, ich floh und träumte davon, Judit mit zu mir in mein gut bewachtes Zimmer in der Carrer Robadors nehmen zu können, denn Bassam war da, der ohne Infusion seine Runden drehte zwischen der Moschee, dem marokkanischen Restaurant, den Fahrraddieben und den Nutten, die er von Weitem beobachtete wie eine verlockende und exotische Tierwelt, wie die Elefanten des spanischen Königs. Zu Hause hatte ich mein eigenes Affentheater: Bassam und Mounir hassten sich. Sie lagen ideologisch und menschlich unüberwindbar weit auseinander; Mounir sah in Bassam nur den zugeknöpften, stummen, unzivilisierten Islamisten; Bassam verachtete Mounir, weil er ein Gescheiterter, ein Dieb, ein Ungläubiger war. Jeder hatte auf seine Weise recht; ich dachte, sie könnten einander auf anderen Gebieten näherkommen, Mädchen, Fußball, dem Leben, aber es war nichts zu machen – sie richteten nur gezwungenermaßen und unfreiwillig das Wort aneinander, und Mounir fragte mich beinahe täglich, wann Bassam wieder abreisen würde. Das Leben stand auf der Kippe, ich spürte es; Bassam versenkte sich ins Gebet und wartete; Judit sollte an einem der nächsten Tage operiert werden; unter dem Druck der Wirtschaftskrise kam es immer öfter zu Streiks, Demonstrationen, Hubschrauberlärm; die ersten heißen Tage gegen Ende des Frühlings stiegen den Drogensüchtigen, den Armen und den Spinnern in den Kopf; täglich tauchten irgendwo neue Leichen auf, eine Bank brach zusammen, eine Naturkatastrophe riss ein Stück mehr von der Welt mit sich fort, oder bin ich es vielleicht, der heute versucht ist, diese Ereignisse im Licht des Kommenden zu deuten, zu denken, dass damals das Schlimmste noch bevorstand, dass es zum Schlimmsten gekommen ist – alles drehte sich vor meinen Augen, Judit im Krankenhaus, Bassam in der Tariq-ibn-Ziyad-Moschee, Meryem im Grab, die Welt forderte etwas, eine Reaktion, einen Wandel, noch einen Schritt auf das Schicksal zu; ich ahnte, dass ich mich bald entscheiden müsste, dass man sich eines Tages entscheiden muss, wo man steht, es hing nur von mir ab, ob ich aufbegehren würde, ob ich einmal, ein einziges Mal, ein Zeichen setzen, etwas wirklich Entscheidendes machen würde, und
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