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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Harz in großen Sieben gewann, bevor sie die durch Oxidation dunkel gewordene Paste formte und dann in Frischhaltefolie wickelte; die Krümel, die sie von ihren Plastikhandschuhen kratzte, steckte sie jedes Mal in ihre Taschen, um sie zu essen, wenn niemand dabei war, um ganz allein vor sich hin zu lachen oder einzudösen, vielleicht zu träumen und sich an die wenigen Stunden zu erinnern, die wir gemeinsam verbracht hatten, als ich sie, nachdem sie mich auf den Mund geküsst und mir die Hand gehalten hatte, schüchtern, fast ohne es zu wollen, auszog, und in diesen vom Haschisch aufgefrischten Erinnerungen lag eine einfache und schöne Zärtlichkeit; ich zog ein wenig Freude daraus. Der Tanz der Lichter von Tanger brachte meine Gedanken auf Trab, ich brauchte einen Plan, um einfach alles hinzuschmeißen, zum Schmutz und den Erniedrigungen zurückzukehren kam dieses Mal nicht infrage. Ich dachte wieder an meine Eltern, an meine Mutter vor allem, an meinen kleinen Bruder, was konnten sie wissen, was würden sie über mich denken, die Sure von Joseph fiel mir ein, Vater! Ich habe elf Sterne und die Sonne und den Mond gesehen. Ich sah sie vor mir niederfallen [Sure 12/4], ich hatte vergessen, dass ich diese Verse auswendig konnte, Joseph, der für weniger als nichts an einen Händler aus Ägypten verkauft wird, Joseph, den Gott lehrt, Träume zu deuten, Joseph, den Suleika in Versuchung führt. Die Straße von Gibraltar war gestreift von den Lichtern der Fähren, eine Karawane auf See. Ich könnte vielleicht Arbeit im neuen Hafen Tanger-Med oder im Freihafen finden, nach einer Weile könnte es mir dann gelingen, auszuwandern, im Grunde genommen hatte Bassam recht, man muss abhauen, man muss abhauen, die Häfen verzehren uns das Herz. Die Einsamkeit wurde zum Dunstschleier, zu einer dicken Wolke aus Unglück oder Angst; mir war ein wenig übel. Ich begann auf meiner Bank vor Kälte zu zittern und hatte plötzlich großen Hunger.
    Nachdem ich unterwegs mit zwei Bissen ein Sandwich runtergeschlungen hatte, kehrte ich in mein Zimmer im »Haus der Verbreitung« zurück; alles war verlassen, still, eine Stille, die an meinen Schläfen pochte; die Augen fielen mir zu, ich schlief wie ein Sack.

Am nächsten Morgen schmeckte mein Mund wie ein Aschenbecher und ich hatte rote Augen, war aber einigermaßen in Form. Ich räumte ein paar Bücher ein, frühstückte, las den Kommentar zur Sure von Joseph im Kaschschaf , Sonnenlicht breitete sich über dem Teppich aus. Gelegentlich tauchten die Gesichter vom Vorabend wieder in mir auf, der in Tränen aufgelöste Buchhändler, der Bart des Schweinehunds vom Parkhaus, wie Abwasser, das wieder den Gulli hochkommt, und ich versuchte sie einzudämmen, indem ich mich auf mein Buch konzentrierte. Ich versuchte mich zu überreden, dass es ist, wie es ist. Was geschehen ist, ist geschehen. Was zählt, ist die Zukunft.
    Cheikh Nouredine tauchte am frühen Nachmittag wieder auf, in Zivil, das heißt in einem ziemlich eleganten dunkelblauen Anzug. Er grüßte mich höflich, ich würde sogar sagen, fast herzlich. Er fragte, ob ich die Bücher bereitgestellt hätte (es war Donnerstag), ich erwiderte, ja. Er sagte, perfekt. Heute Abend haben wir eine Versammlung außer Haus, morgen früh bin ich wieder da. Und dann ging er. Keine Bemerkung, keine Anspielung auf die Strafexpedition vom Vorabend.
    Endlich war ich wieder allein. Ich schaute ein paar Internetseiten an, schickte Facebook-Nachrichten an Mädchen, die ich nicht kannte, alles Französinnen, es war wie Flaschenpost. Ich bin ein junger Marokkaner aus Tanger, ich bin auf der Suche nach Freunden, die meine Leidenschaft teilen: Bücher .
    Ich werde euch zeigen, wie gebildet ich bin, dachte ich, was der Zusatz über die Bücher bestätigt, der vielleicht ein wenig übertrieben, aber klar und deutlich war. Dazu muss ich sagen, dass ich Mädchen aussuchte, die zweifellos hübsch waren, aber meistens Brille trugen und aus Städten stammten, über die ich nichts wusste, von denen ich jedoch annahm, dass sie kalt, langweilig und folglich dem Lesen zuträglich waren. (Es versteht sich von selbst, dass ich nie eine Antwort erhalten habe; zur Entlastung dieser Fräuleins muss ich allerdings gestehen, dass sie bei einem Blick auf mein Profil, das ich vorsorglich für jedermann zugänglich gelassen hatte, unter meinen Freunden nicht nur Bassams Sträflingsgesicht, sondern auch die »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts« oder Al-Dschasira

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