Straße der Diebe
Bar in der Avenue Pasteur, ich ging hinein, grüßte wie ein Stammgast, der ich nicht war, ich setzte mich an einen Tisch, ich bestellte eine erste Flasche, dann eine zweite, und allmählich ging es mir ein wenig besser. Warum musste das Leben mich so mies behandeln? Wer weiß, vielleicht lag ein Fluch auf mir, weil ich meinem Vater Schande bereitet hatte. Vielleicht hatte Gott selbst es auf mich abgesehen und wollte mich jedes Mal in noch größere Verzweiflung stürzen? Keine Ahnung. Das Bier war jedenfalls gut. Ich hätte mich vielleicht statt in den Alkohol ins Gebet versenken sollen, aber was soll’s.
In der Pinte waren ganze vier Gäste, Marokkaner im Anzug, die sich unterhielten und Whisky tranken, keine versprengten Touristen; der Alkohol stieg mir langsam in den Kopf, ich hätte am liebsten losgeweint. Meryem fiel mir wieder ein, um diese Uhrzeit schlief sie sicherlich, dort im Rif. Wer weiß, vielleicht träumte sie von mir.
Das Fernsehen zeigte die Demonstrationen in Ägypten, in Tunesien, im Jemen, den Volksaufstand in Libyen. Noch ist nichts gewonnen, dachte ich. Der Arabische Frühling ist für den Arsch, eingezwängt zwischen Gott und Amboss, wird er mit Knüppelhieben enden.
Ich bedauerte, kein Buch mitgenommen zu haben, das hätte mich auf andere Gedanken gebracht.
Als der Kerl die Bar betrat, schaute ich noch immer fern; ich hatte ihn kaum bemerkt. Er war es, der auf mich zuging. Er kam näher, stützte seinen Ellbogen auf meinen Tisch, fixierte mich mit einem fiesen Lächeln. Kleine Augen, brauner, etwas ausgebleichter Bart. Sofort wandte ich mich ab. Er sagte:
»Sieh mal einer an, da ist ja meine kleine Schwuchtel.«
Ich drehte mich nach dem Wirt um, zeigte meine Entrüstung, so kann man Gäste nicht beleidigen, meine Brust brannte, ich hatte feuerrote Wangen. Der Mann hinter dem Tresen beobachtete uns erstaunt.
»Erinnerst du dich an mich?«
Wie hätte ich diese Fresse, das Halbdunkel und den Uringestank im hintersten Winkel eines Parkhauses vergessen können?
Meine Knie begannen zu zittern, ich wollte, dass er wie durch ein Wunder verschwand und dass die Schande und die Erinnerung daran mit ihm ausgelöscht wären.
Ich hätte ihm gern den Hackenstiel in die Fresse gehauen.
Mit einem dreckigen, breiten Grinsen ließ er von mir ab, er war betrunken, der Atem, der mir entgegenschlug, stank nach Kellerloch, eine Welle von Fäulnis und Erinnerungen schwappte über mich; aus dem Gleichgewicht gebracht, schwankte ich mitsamt meinem Barhocker und wäre beinahe rückwärts umgekippt, still und feige haute ich ab, ich verließ die Bar blitzartig, ohne mich umzusehen, doch es blieb mir nicht erspart, einige Sätze des Kerls zu hören, geh nicht so schnell, Kleiner, mit ein paar Obszönitäten, die mich mit ohnmächtiger Wut erfüllten, wie man Schläge kassiert, ohne zurückschlagen zu können.
Draußen strich ein eisiger Wind vom Meer durch die Straße, die Stadt war menschenleer, sogar vor den Kanonen war nichts los, ein paar Touristen waren auf dem Rückweg in ihre schicken Hotels, ich raste die Straße hinunter zum Grand Socco, lief automatisch einmal um den Platz, kaufte mir gedankenlos Kippen, zwei Männer, die ich bereits bemerkt hatte, wärmten sich an einem Brasero auf, für einen der Scheine, die mir noch verblieben waren, erstand ich ein Bröckchen Haschisch von ihnen, ich ging zu einer etwas abseits stehenden Bank und rauchte unauffällig. Alles wurde still. Die Droge beruhigte mich. Ein ruhiger, schwarzer Schleier legte sich über die Stadt, plötzlich war ich weit weg, hinter einer Mauer zwischen meinem Körper und der Welt, ich dachte wieder an den Buchhändler, an den Parkhauswächter, an Cheikh Nouredine, an Bassam, als ob sie mir völlig fremd wären, als ob das alles keine Bedeutung hätte. Tanger war eine düstere Sackgasse, ein vom Meer verstopfter Korridor; die Straße von Gibraltar ein Schlitz, ein Abgrund, der unseren Träumen den Weg versperrte, der Norden eine Fata Morgana. Einmal mehr kam ich mir verloren vor, und ich hatte keinen anderen Boden unter den Füßen als das Festland, auf dem ich stand und das hinter mir lag, die riesige Küste Afrikas bis zum Kap und nach Osten hin alle diese Länder in Flammen, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Palästina, Syrien. Ich rollte mir einen zweiten gut gestopften Joint und dachte dabei, dass dieser Shit aus dem Rif kam, vielleicht hatte Meryem von ihren Fenstern aus die Hanfpflanzen wachsen sehen, aus denen sie selbst das
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