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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Lefzen, seine dicke Zunge wanderte über die Oberlippe, um sich die letzten Schokoladenstückchen nicht entgehen zu lassen; er schnappte sich die kandierte Kirsche und warf sie sich in den Mund, ich wandte den Blick ab, bevor ich sehen konnte, ob er sie gekaut hatte.
    »Okay. Ich frag’ sie.«
    Nie hatte ich es gewagt, eine Ausländerin direkt anzusprechen; ich hatte oft davon gesprochen, mich mit Bassam häufig darüber unterhalten, wenn wir stundenlang die Straße von Gibraltar beobachteten; wir haben viel gelogen oder eher viel geträumt. Er sah mich auf seine naive und brüderliche Art an, ich erinnere mich, dass ich an meine Familie dachte, meine Familie sind Bassam und Meryem, sonst niemand.
    »Okay. Ich frag’ sie.«
    Ich ging zum Tisch der beiden Mädchen, so viel ist sicher; ich weiß, dass ich sie angesprochen habe; keine Ahnung, mit welchem Kauderwelsch, mit welchem Sprachgewirr es mir gelang, mich ihnen verständlich zu machen; ich weiß nur – ich hatte inzwischen alle Zeit der Welt, um darüber nachzudenken –, dass ich mit meiner Geschichte von Carmen und Ines so aufrichtig, so wenig interessiert an ihnen wirkte, ich hoffte so sehr, dass sie diese Carmen und Ines kannten, dass sie überhaupt nicht misstrauisch wurden, dass sie mir offen antworteten und dass alles auf die natürlichste Weise ablief, und danach, als sie Bassam hörten, Bassams Kopf sahen, haben sie begriffen, dass es keine Falle war, sondern dass irgendwo eine Carmen und eine Ines durch Tanger geisterten wie Gespenster, und es tat ihnen leid für uns, aber wissen Sie, es regnet, sagten sie, es regnet, und ich lachte mir heimlich ins Fäustchen, ich hätte mich bucklig lachen können bei dem Gedanken, dass der Regen, auf den wir nie achteten, dass dieser Regen, möge Gott, möge Allah mir verzeihen, so leicht ein Schicksal ändern kann.

Bei näherem Hinsehen waren unsere beiden Spanierinnen sich gar nicht so ähnlich; sie kamen aus Barcelona, hießen Judit und Elena, die eine war dunkler, die andere fülliger; alle beide waren Studentinnen und hergekommen, um, oh Wunder, genau wie ich es mir ausgedacht hatte, eine Woche Urlaub in Marokko zu verbringen, denn sie hatten, ich weiß nicht mehr, Winter- oder Frühjahrsferien, für mich war es jedenfalls der Arabische Frühling, der anbrach, und es war allemal eine Revolution wert, dass man uns nette Studentinnen sandte, Mädchen, von denen man sich immer vorstellte, dass sie außerordentlich raffinierte Unterwäsche trugen und geneigt waren, sie zu zeigen, ohne einen mit Fragen zur Familie, Religion, zu Anstand und guten Sitten zu nerven, reiche Mädchen, die dir, wenn sie in dich vernarrt waren, mit einer einzigen Unterschrift den Sprung über diese gleißende Straße von Gibraltar ermöglichen, die dich beiläufig ihren Eltern vorstellen konnten, das ist übrigens mein Freund, und ihr Vater findet aus gutem Grund, dass du ein Mohrengesicht hast, aber dazu nickt er nur, als wollte er sagen, mein Kind, es ist deine Entscheidung, und so würde man schließlich wie Gott in Spanien leben, dem Land der dunklen Schinken, dem Tor zu Europa.
    Bassams Augen sprachen von alldem, von allem außer dem Schinken natürlich; er betrachtete die junge Frau vor sich wie einen Reisepass mit Aktfotos anstelle der Sichtvermerke, so sehr, dass Elena Zeit darauf verwendete, ihr T-Shirt über den Schultern zurechtzurücken, um ihren Oberkörper zu verbergen, eine Geste, die Bassam nicht als Schamhaftigkeit interpretierte, sondern eher als Provokation – aus Verlegenheit über seine Blicke rückte sie auch ihren Büstenhalter zurecht, ohne zu ahnen, dass ihre Gesten Bassam auf diesen verborgenen Gegenstand erst hinwiesen, dass ihre feingliedrigen Hände auf ihrer eigenen Haut beim Anfassen der Träger, beim Anheben des Stoffes, um die Finger darunterzuschieben, dann beim Ausrichten der Träger mit einer leichten, aufwärts gerichteten Bewegung, die durch das unwillkürliche Schnalzen des Gummis betont wurde, Bassam den Schweiß auf die Stirn trieben, der seine Augen nicht mehr von der Mulde in diesen Schultern losreißen konnte, von den Salz- oder vielmehr Pfefferfässchen, die von diesem unsichtbaren und trotzdem so präsenten weißen Träger überspannt wurden –, und ganz in diesen Anblick versunken, leckte Bassam an seinem Zeigefinger, er leckte unbewusst seine Fingerspitze, damit die über seinen Teller verteilten Krümel der Schwarzwälder Torte daran haften blieben, während er sie wortlos zerquetschte.

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