Strasse der Sterne
zu hören. Voller Panik sah sie sich um. Wenn jemand sie hier im Mondlicht beobachtete, barfüßig Selbstgespräche führend - er würde sie für verrückt halten! Und vielleicht war sie das sogar, überwältigt von Gefühlen, die sie längst verloren geglaubt hatte. Aber da war niemand, außer dem Wind, den Bäumen und dem Mond, hoch über ihr.
Sie ging weiter, hinüber zu dem kleinen Friedhof. Das Grab des Heiligen befand sich in der Klosterkirche, die zweimal im Jahr, zur Tag-und-Nacht-Gleiche, von einem Lichtwunder erhellt wurde. Frauen, die ungewollt kinderlos blieben, pilgerten hierher. Das hatte der Frater erzählt, der ihnen im Hospiz das Essen hingestellt hatte. In Scharen kamen sie hierher, um ihre Not zu beenden. Ob es auch half, San Juan von Ortega andere Wünsche anzuvertrauen?
Moira hätte jetzt keinen geschlossenen Raum ertragen. Im Nachtwind kniete sie deshalb vor einem der einfachen Holzkreuze nieder und faltete die Hände, öffnete sie wieder, um sie schließlich auf ihre Brüste zu legen.
»Ich begehre«, flüsterte sie und spürte, wie bei diesen Worten eine Welle von Scham sie durchflutete. Aber gleichzeitig war es eine Erleichterung, sie auszusprechen. »Immer habe ich gewartet, bis die Dinge zu mir gekommen sind. Jetzt aber ...«
Ihr Kopf fuhr zurück, aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte im Dunkel der hohen Pinien nichts entdecken.
»... jetzt aber«, wiederholte sie, das Gesicht erneut zum Kreuz gerichtet, »möchte ich die sein, die stark ist und mutig. Ich will ihm zeigen, dass es ein Ankommen für ihn gibt. Und dass dieses Ankommen bei mir ist. Schenk mir die Kraft dafür. Und die Geduld. Befreie mich von dieser Eifersucht, die alles in mir zerfrisst!«
Sie stand auf, ging zum Kloster zurück. Abermals hielt sie inne.
»Ist da jemand?« Der Wald verschluckte ihre Stimme. »Wer ist da?«
Ohne sich noch einmal umzusehen, ging sie hinein.
Tariq wartete, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hat- te. Dann erst löste er sich vom Stamm der windzerzausten Kiefer, die ihn vor ihren Blicken geschützt hatte.
Seine Schmerzen waren inzwischen verschwunden. Der Mönch hatte gute Arbeit geleistet. Er war wieder in der Lage, klar zu denken. Aber der Verlust des Zahns hatte ihn auch daran erinnert, wie viel Zeit er schon verloren hatte.
Er hatte Moira scharf beobachtet, seit dem Tag, an dem sie zu ihnen gestoßen war. Nichts war ihm entgangen. Kein Wort, kein Lächeln, keine Geste. Nicht die kleinste Regung. Weder die Abneigung der niña ihr gegenüber noch die vorsichtige Annäherung und erst recht nicht die langsam wachsende Vertrautheit zwischen den beiden.
Er freute sich darüber. Niemand konnte Pilar die Mutter ersetzen, aber die Wärme und Zuneigung Moiras taten ihr sichtlich gut. Und er fühlte sich erleichtert - nicht nur ihretwegen.
Den ganzen Weg über hatte er gegrübelt, wer Pilar das Vermächtnis ihrer Mutter vortragen sollte. Kein Diener wie er, das stand von Anfang an für ihn fest. Aber auch nicht Camino, der selber tief in das Geschehen verwickelt war. Dazu hatte er sich erst vor kurzem entschlossen.
Nun, da er glaubte, die Richtige gefunden zu haben.
*
Burgos, Juli 1246
»Ich möchte, dass du mich ansiehst«, sagte Armando, als er Pilar vom Pferd half. Er musste den kurzen Moment ihres Alleinseins nutzen, denn die anderen würden bald wieder zurück sein.
»Du weißt genau, dass ich das nicht kann«, sagte sie.
»Doch du kannst es. Du hast es früher auch getan, auf deine Art. Was ist los? Weshalb schneidest du mich seit Tagen?«
»Nichts.« Sie machte sich steif, seine Hände lagen noch immer auf ihren Armen. »Es ist nichts. Und jetzt lass mich los. Ich bin nicht lahm. Ich bin nur blind.«
»Du lügst. Und du lügst schlecht.«
Vom Ufer des Arlanzon klangen Sprachfetzen zu ihnen herüber. Camino und Tariq füllten dort die Wasservorräte auf. Moira hatte sie begleitet. Ausnahmsweise hatte Estrella sich erboten, ins Dorf zu gehen und Brot zu kaufen.
»Also gut, wenn du unbedingt willst.« Pilar stemmte die Fäuste in die Hüften, um sich sicherer zu fühlen. »Ich habe dich gehört. Neulich nachts. Mit Estrella.«
Röte schoss in sein Gesicht. Für einen Moment war er froh, dass sie es nicht sehen konnte.
»Da war nichts ...«, begann er zu stottern. »Nur ...«
»Du lügst. Und du lügst schlecht«, wiederholte sie seine Worte. »Meine Augen taugen nichts mehr, meine Ohren aber sind umso besser. Außerdem: Was ist schon dabei? Sie
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