Strasse der Sterne
und Töten, einer der wenigen von der Miliz des Tempels, die dem päpstlichen Bannspruch getrotzt hatten. Um keinen Preis der Welt wäre er damals bereit gewesen, Palästina zu verlassen und nach Hause zu segeln. Es kümmerte ihn nicht, dass der Boden mit Blut getränkt war - im Gegenteil. Er hatte den Tod herbeigesehnt.
Der Umhang hatte ihm damals als Pferdedecke gedient, als Schutz in kalten Wüstennächten, sogar als Lösegeld, um seinen Freund zu retten, der nur wenige Tage später beim Baden ertrunken war. Er selber hatte überlebt. Und schließlich den Umhang zurückerhalten. Nur, um von Tag zu Tag die Trauer zu spüren, die ihn innerlich auffraß?
Unvernünftig, dieses verräterische Stück Stoff weiterhin mit sich herumzuschleppen! Aber gleichzeitig wusste er, dass er sich dennoch nicht davon trennen konnte. Zu eng war sein Leben damit verbunden.
»Was ist das?« Das Mädchen deutete auf das Symbol, das ihm einmal alles bedeutet hatte.
»Ein Tatzenkreuz«, erwiderte er. »Es gehört Christus.«
»Was macht es?«
»Es tränkt den Boden mit Blut und tötet die Liebe.« Er hatte spontan geantwortet. »Manchmal wünschte ich, ich hätte es niemals zu Gesicht bekommen, das kannst du mir glauben.«
Lucias Blick wurde zweifelnd. Noch nie hatte jemand in ihrer Nähe so über das Kreuz gesprochen, und etwas in ihr lehnte sich dagegen auf. Aber bislang hatte sie keinen Anlass gehabt, dem Fremden zu misstrauen, der so ernsthaft mit ihr redete, als sei sie kein Kind mehr.
»Hat Christus es dir geliehen?«, sagte sie leise.
Sie überraschte ihn immer wieder. Ein Bauernmädchen, in dem so kluge Gedanken aufstiegen! Wäre alles anders gekommen, er hätte bei seiner Liebsten bleiben können und sein eigenes Kind aufwachsen sehen.
»Ja«, sagte er. »So könnte man es ausdrücken.«
»Dann musst du es ihm auch zurückgeben«, entgegnete sie nach kurzem Zögern.
»Das muss ich wohl.« Er verzog den Mund zu einem halben Lächeln. »Vielleicht bin ich ja deshalb unterwegs.«
»Aber ich möchte doch, dass du für immer bei uns bleibst!«
»Du weißt, dass ich das nicht kann«, sagte er. »Ich will weiter, zunächst nach Einsiedeln.«
Er hatte ihr den Weg dorthin in den Schnee gezeichnet. Aber für sie, ein Kind dieser Berge, waren es nur Linien gewesen, die sie nicht verstand. Bisweilen empfand sie beinahe etwas wie Eifersucht, wenn sie an die Mönche dachte, die dort bei der Schwarzen Madonna wohnen durften.
»Aber das kannst du erst, wenn der Weg wieder frei ist.« Lucia freute sich heimlich, dass zu Winterbeginn ein Steinschlag den Säumerpfad versperrt hatte. Sonst würden ihn vermutlich nicht einmal die höchsten Schneewehen davon ab halten, schon jetzt aufzubrechen. »Und der Nonno hat gesagt, sie werden die Trümmer erst wegräumen, wenn es nicht mehr schneit.«
Er nickte abwesend.
Sie wusste, dass es lediglich ein Aufschub war. Schon jetzt wurden die Nächte kürzer. Sie würde ihn verlieren. Für immer. Wie ihren Vater, der vor drei Jahren auf der Jagd in eine Felsspalte gestürzt war. Das Schlucken fiel ihr plötzlich schwer.
»Und bei den Mönchen bleibst du dann?«, fragte sie. »Für immer?«
»Nein«, sagte er. »Ich hab ein anderes Ziel, weit im Westen, das Grab des heiligen Jakobus. Die Straße der Sterne führt dorthin, die viele Überraschungen und geheimnisvolle Zeichen bereithält.«
Lucias Augen weiteten sich erwartungsvoll.
»Gehen viele Menschen dorthin?«, fragte sie.
»Sehr viele«, erwiderte Camino. »Und es werden immer mehr. Santiago de Compostela, so heißt die Stadt, in der der Heilige begraben liegt, ist dabei, den anderen heiligen Orten der Christenheit den Rang abzulaufen. Soll ich dir verraten, was man über sie sagt?«
Die Kleine nickte.
»Nach Jerusalem um Jesu willen, nach Rom um des Papstes willen, nach Santiago aber für sich selbst. Deshalb bin ich zu ihm unterwegs. Ich hoffe, Jakobus wird mich nicht enttäuschen.«
»Und was suchst du bei ihm?«, sagte sie sanft. »Wunder und Überraschungen?«
»Du bist wirklich ein kluges Mädchen. Aber ich kann es dir nicht genau sagen. Vielleicht Ruhe. Und Geborgenheit.
Eine Art von Nachhausekommen. Ich bin schon so lange unterwegs, Lucia. Ich kann mich kaum noch erinnern, wie sich das anfühlt.«
Sie schwieg eine Weile.
»Wollen die anderen das auch?«, sagte sie dann. »Ruhe und Nachhausekommen?«
Er lächelte. »Ich kann nur für mich sprechen. Aber ich vermute, dass man ebenso viele Gründe für diese Pilgerschaft
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