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Strasse der Sterne

Strasse der Sterne

Titel: Strasse der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Schneetreiben, das jedes weitere Fortkommen unmöglich machte, schließlich in Ambri gestrandet, diesem gottverlassenen Schattenloch, das den Namen Dorf nicht einmal verdiente.
    Er wusste, dass er ungerecht war.
    Zumindest hatte er ein Dach über dem Kopf, in einem der Fuoci, wie man die Bauernhäuser hier oben nannte, und damit Unterschlupf gefunden bei einer Familie, die den Fremden ohne unnötige Fragen aufnahm. Er hatte niemals einen Hehl daraus gemacht, dass er weiterziehen würde, sobald die Witterung es erlaubte. Keiner fasste in Worte, was unausgesprochen jeden Tag mehr Raum einnahm: dass seine Gastgeber hofften, er würde sich doch noch anders besinnen. Aber manchmal waren die erwartungsvollen Augen des Mädchens, die Blicke des Nonno und das verschämte Zwinkern der jungen Witwe mehr, als er ertragen konnte.
    Dann lag er schlaflos auf seinem Lager, und all die ungesagten Worte wuchsen, bis sie seine Lungen füllten und ihn zu ersticken drohten. Aber seine Seele war offenbar noch nicht bereit, den Körper zu verlassen, auch wenn er immer wieder darum gebetet hatte.
    »Hast du heute gehört, wie die Sonne auf den Berg trifft?«
    Lucias Hände verharrten unschlüssig in der Luft, als er seine Kammer betrat. Er hatte den Umhang auf dem Lager ausgebreitet und dort offensichtlich vergessen. Ein Talglicht warf flackernde Schatten an die Wand und ließ ihren Hals, den die aufgesteckten Zöpfe freigaben, verletzlich wirken.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Eines Tages wirst du es hören. Sagst du mir jetzt das Wort?«
    »Welches Wort?« Es war ein Spiel zwischen ihnen, das beide liebten. Sie veränderten seine Regeln niemals.
    »Du weißt schon. Mein Lieblingswort - bitte!«
    »Salaam.«
    »Saalam«, wiederholte sie genüsslich, »das heißt Frieden. In einem fernen, heißen Land, in dem immer die Sonne scheint.« Lucia kniete noch immer, die Hände regungslos ein Stück über dem Stoff.
    »Du darfst ihn anfassen«, sagte er.
    »Weiß«, sagte sie, in ihrem gurgelnden Dialekt, den zu verstehen ihn noch immer Anstrengung kostete, und rieb ihre kleinen Finger vorsichtig daran. »Und rot.«
    Es war so kalt, dass er ihren Atem sehen konnte. Eine weitere eisige Nacht stand ihm bevor. Dabei konnte er froh sein, dass der Nonno ihm seinen Schlafplatz überlassen hatte und sich nun mit dem Mädchen und der Mutter in der Küche ausstreckte. Öfter hatte er ihn aufgefordert, sich ihnen anzuschließen. Dabei wussten beide Männer, dass der Fremde zwar jedes Mal höflich nickte, aber in der Kammer bleiben würde.
    »Steh auf, Lucia!«, forderte er sie auf. »Sonst kriegen deine Knie noch Schnupfen.«
    Sie kicherte. Keiner redete wie er. Keiner war wie er. Langsam erhob sie sich, die Augen noch immer auf den Umhang gerichtet.
    Es war das Stück Stoff, das er im Dienste Christi getragen hatte. Ein Sternenritter, so hatte er sich damals gefühlt. Berufen zur Ehre und zum ewigen Ruhm des Herrn.
    Für einen Augenblick wichen die roh behauenen Steinmauern zurück, und er spürte wieder Weite und trockenen, heißen Wind. Und dann war er gegenwärtig, als sei es erst gestern gewesen - der Kreuzzug. Kaiser Friedrich II. war es in langen Verhandlungen gelungen, Jerusalem, Nazareth und Bethlehem auf friedlichem Weg zurückzugewinnen und darüber hinaus einen zehnjährigen Waffenstillstand zu erzielen.
    Soweit die offizielle Version.
    In Wirklichkeit war der Kreuzzug alles andere als ein Gebet in vielen Sprachen, wie einer der Päpste geschwärmt hatte. Die Stimmung in ganz Europa schien umgeschlagen. Niemand rühmte Friedrich für diesen unerwarteten Ausgang. Der Kaiser hatte zahlreiche Anläufe genommen, um ins Heilige Land zu gelangen, mehrmals den Kirchenbann riskiert und sich um seine Exkommunikation nicht geschert. Nach seiner eigenhändigen Krönung zum König von Jerusalem hatte er es eilig, die Stadt wieder zu verlassen. Böse Geister schienen ihn zu verfolgen; jeder, der einmal in seiner Nähe gewesen war, konnte dies spüren. Manche behaupteten, er sei mehr Araber als die Araber selber; ein verkleideter Muslim, fasziniert von den Lehren des Korans. Andere behaupteten sogar, er mache sich wenig aus jeder Art von Glauben.
    Vielleicht hatte es den Kaiser deshalb nicht sonderlich gekümmert, dass lange vor dem feierlich vereinbarten Ende des Waffenstillstands erneut Scharmützel entbrannten. Und damit von neuem das sinnlose Sterben begann, das weder nach Alter, Reichtum noch Religion fragte.
    Er war mittendrin gewesen, in all dem Wüten

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