Strasse der Sterne
abzurücken.
Mein ganzes Leben lag in ihrer Hand. Mehr denn je erinnerte sie mich an ein sattes, aber nicht minder gefährliches Raubtier. Erwachte ihr Appetit, war sie fähig, uns alle mit einem einzigen Prankenschlag zu vernichten.
»Man bildet sich ein, die Liebsten zu kennen«, sagte sie leise und betonte jedes Wort, als rezitiere sie eine ihrer Canzonen. »Fast so gut, wie man sich selbst zu kennen glaubt. Aber ist das wirklich möglich, Blanca? Bleiben wir uns letztlich nicht alle ein tiefes Geheimnis - ein jeder von uns?«
*
»Du wirst mich verlassen?«
»Das will ich niemals«, sagte Oswald.
»Aber die Flotte sammelt sich. Wirst du dann mit an Bord sein, wenn sie ablegt?«
»Der deutsche Kaiser hat schon mehrfach feierlich gelobt, das Kreuz zu nehmen, und jedes Mal wieder Gründe gefunden, es nicht zu tun. So oft sogar, dass er exkommuniziert ist. Wer mit ihm zieht, verstößt gegen die Weisungen des Heiligen Vaters.«
»Alle sagen, dass er es dieses Mal tun wird. Weich mir nicht aus, Oswald! Du gehörst zur Miliz des Tempels, und euer Auftrag ist es, gegen die Ungläubigen im Heiligen Land zu kämpfen. Wieso weiß ich also nichts davon?«
Sein Lächeln erlosch.
»Ich wollte dich nicht beunruhigen. Aber ich habe dich niemals getäuscht. Nicht einen einzigen Lidschlag.«
»Und ein Mönch bist du«, erwiderte ich heftig, »der Gehorsam und Keuschheit geschworen hat.«
»Das war ich, bevor ich dich getroffen habe, Blanca.« Er wollte mich an sich ziehen, aber ich wich ihm aus. »Jetzt trägst du meinen Ring - den Ring meines Vaters.«
»Aber was bist du dann?« Ich hasste den schrillen Klang meiner Stimme, aber etwas in mir zwang mich zum Weitermachen. »Sag es mir. Denn ich weiß es nicht mehr. Ich weiß gar nichts mehr. Ich habe Angst, Oswald!«
»Das musst du nicht«, sagte er sanft. »Mein Herz gehört dir. Bist du froh, dann lacht es. Bist du traurig, so weint es mit dir.«
»Dann wird es bald jede Menge zu weinen haben.« Ich musste ihm weh tun, so wie er gerade dabei war, mir immer noch größeres Leid zuzufügen. »Wie kann ich weiterleben, wenn ich dich verliere?«
Er senkte den Kopf und schwieg. Als er mich wieder ansah, war sein Gesicht so offen, dass ich es kaum ertragen konnte.
»Für dich würde ich alles tun«, sagte er. »Was verlangst du, Blanca? Sag es!«
Und ich für dich, wollte ich ihm entgegenschreien, aber ich konnte es nicht. Wie durfte ich bedingungslose Hingabe und Wahrhaftigkeit von ihm fordern, wo ich selber noch immer das Wichtigste vor ihm verbarg?
Die Andeutungen Consuelos schwangen wie ein hässlicher Reim in mir nach. Waren sie eine versteckte Warnung? Dann musste ich Sancha und die anderen davon in Kenntnis setzen. Oder hatte sie in ihrer gefährlichen Katzenart nur wieder einmal mit mir gespielt, wie sie es so gerne tat?
Ich sehnte mich plötzlich nach meinem Bruder. Alles schien so einfach gewesen. Er gab die Regeln vor und ich befolgte sie, auch wenn ich sie nicht immer verstand. Diego war mein Schutz; auf ihn konnte ich mich verlassen.
Jetzt dagegen kam ich mir vor wie jemand, der heimlich auf einen hohen Turm geklettert war und das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Was ich auch tat, es war falsch. Vielleicht fühlte ich mich deshalb wie eine doppelte Verräterin.
»Ich weiß keinen Ausweg«, murmelte ich und ließ endlich die ersehnte Umarmung zu. Aber als ich den Schlag seines Herzens dicht an meinem hörte, fühlte ich mich nur noch elender. »Ob ich dich jetzt verliere oder später - was macht das schon für einen Unterschied? Wir werden niemals zusammen sein können!«
»Sei nicht traurig, Blanca. Es tut mir weh, dich so zu sehen. Außerdem gibt es immer einen Ausweg«, murmelte er. »Wir müssen nur mutig sein - du und ich. Gemeinsam sind wir unbezwingbar.«
Am Gotthardpass, Februar 1246
Kurz bevor die Sonne sank, brannte der Schnee.
Dann war nichts mehr zu entdecken von dem verborgenen Kobaltblau, dem Grün und Gold in dem grenzenlosen Weiß, aus dem die Welt seit Monaten zu bestehen schien. Er erlebte dieses Schauspiel regelmäßig, denn er ging dem Nonno beim Holzhacken zur Hand. Der alte Mann hatte seine Beweglichkeit eingebüßt, seit im Spätherbst ein Baumstamm seinen Rücken getroffen hatte. Die Arbeit machte ihm nichts aus, aber um hinauszugehen, musste er sich jedes Mal aufs Neue überwinden, denn angesichts der schroffen Berge ringsherum fühlte Camino sich ohnmächtig und verzagt.
Auch heute schmerzten ihm schon
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