Strasse der Sterne
»Versuch also nicht, mich aufzuhalten.«
Er senkte den Kopf. Niemand durfte einen Pilger von seinem Vorhaben abbringen, am wenigsten ein Diener Gottes.
»Dann geh mit Gott, Moira!«, sagte er. »Ob wir dich jemals wieder sehen werden?«
»Das liegt allein in Seiner Hand«, erwiderte sie. »Leb wohl!«
Die Nächte waren noch empfindlich kalt, als sie aufbrach, aber die Sonne gewann von Tag zu Tag mehr Kraft. Wenn sie genauer hinsah, entdeckte sie überall erste Frühlingsboten. Es dauerte eine Weile, bis sie das westliche Tor passiert hatte, weil die Stadt in den letzten Jahren so schnell gewachsen war, dann lag Trier endlich hinter ihr.
Moira fand den lehmigen Weg zwischen den Äckern wie im Schlaf. Der Himmel hatte die Farbe von Zinn, als sie die kleine Anhöhe erreicht hatte.
Sie stieß die knarzende Tür auf.
Im Sommer breiteten alte Lindenbäume ihr schützendes Dach über die Kapelle. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, dass die großen Kräfte, die Meer, Himmel und Sterne geschaffen haben, nicht in einem von Menschenhand geschaffenen Gebäude verehrt werden können. Dagegen hatte Gero immer behauptet, Gott brauche ein solides Haus, in dem er wohnen könne. An diesem Ort schien es, als würden sich beide Meinungen aufs Wunderbarste ergänzen. Erst Steine und Bäume gemeinsam schufen das Heiligtum.
Offenbar war Moira nicht die Einzige, die hier Zuflucht suchte. Wachskerzen erhellten den Raum. Auf einem provisorischen Altar saßen drei in weite Mäntel gehüllte Statuen in aufrechter Haltung, die edelsteinbesetzte Kronen trugen. Heiligenscheine umrahmten ihre Köpfe wie goldene Hauben aus Mond- oder Sonnenlicht. Die linke hielt eine silberne Kette, die rechte hob ihre Hand zu einer Segensgeste. Die mittlere hatte ihre Linke aufs Herz gelegt, als ob sie sprechen wollte.
Die Figuren zu betrachten machte sie ruhiger, obwohl die Gesichter nicht lieblich waren, sondern ernst, beinahe streng. Manche in der Stadt nannten sie Sonne, Mond und Erde; einige Ampet, Gewer und Bruen. Andere sprachen ehrfürchtig von drei Heiligen, Barbara, Margarete und Katharina. Wieder andere sagten, es handle sich um Fides, Spes und Caritas.
Der knienden Frau war es gleichgültig.
Für sie waren es drei andere Frauen, untrennbar verbunden. Ihre Mutter Mary, die Irland verlassen hatte und einem Steinmetz in die Fremde gefolgt war. Sie selber, die sich noch immer die Schuld an allem gab. Und Marie, der die Gier des Vaters und die Blindheit der Mutter den Tod gebracht hatten.
Moira betete für alle drei.
Sie fröstelte, als sie schließlich aufstand und die Tür einen Spalt öffnete. Es goss in Strömen und der Wind hatte aufgefrischt. Dunkelheit senkte sich bereits über das Land.
Einen Augenblick zögerte sie, dann wusste sie plötzlich, was zu tun war. Sie zog ein Stück Brot und ein paar verschrumpelte Äpfel aus der Tasche und kaute sie langsam. Sie war noch lange nicht satt. Aber sie wusste, wie sie sich helfen konnte.
Betende brachten wie in alter Zeit oft kleine Geschenke hierher, und so fand sie in einer Nische einen halb gefüllten Weinkrug und etwas gepökelte Wurst, die noch genießbar war. Die drei Frauen würden nichts dagegen haben. Und ihr schenkte die Gabe Kraft und neuen Mut.
Sie streckte sich auf ihrer Decke aus. Der Boden war hart, aber wenigstens trocken. Eine Weile folgten ihre Augen noch den tanzenden Schatten an der Wand, dann stand sie auf und löschte die Kerzen.
*
Es roch nach verbranntem Horn, als sie über den Kornmarkt ritten. Tariq stieg der Geruch sofort in die Nase, während Pilar noch ganz unter dem Eindruck des Pilgersegens zu stehen schien, den Rabanus ihnen gerade gespendet hatte. Jetzt jedoch nahm auch Pilar den Gestank wahr. »Hier riecht es widerwärtig! Was ist das?«
Tariq blieb stumm.
Sehr gerade saß sie vor ihm auf der Stute, den Rücken leicht durchgedrückt. Noch immer erschreckte ihn der Anblick ihres hellen Nackens. Pilar hatte eigenhändig ihr Haar abgeschnitten, angeblich weil sie unterwegs keine Umstände damit haben wollte. Er aber war überzeugt, den wahren Grund zu kennen. Ihrem toten Vater hatte sie die Pracht geopfert. Sie haderte mit seinem Sterben, er aber wusste, dass Geburt und Tod jedes Menschen vorbestimmt waren. Der Tod war für den Gläubigen ein Geschenk. Er fürchtete sich nicht davor. Nur seine niña sollte zuvor unbedingt ihr Ziel erreicht haben.
»Warum antwortest du nicht?«, fragte sie ungeduldig.
Was sollte er sagen? Dass sie gerade Kaspar Sperling
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